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Berliner Hauptbahnhof: Polizist schießt auf 14-Jährige
Schusswaffengebrauch gegen jugendliche Ladendiebin im Hauptbahnhof lässt an Verhältnismäßigkeit zweifeln
Am Sonntagabend ist am Berliner Hauptbahnhof kaum noch etwas von der Aufregung des Vortags zu spüren. Eine Gruppe Jugendlicher steht vor einem Supermarkt im Bahnhofsgebäude, Polizisten gehen ihre Runde. Der Samstag verlief hier ganz anders. Ein Polizist setzte seine Schusswaffe gegen eine 14-Jährige ein, nachdem diese nach Angaben der Polizei mit einem Messer auf Polizisten losgegangen war. Die Jugendliche sei dabei an Arm oder Hand getroffen worden, hieß es. Doch auch nach dem Wochenende stellt sich die Frage, ob der Schusswaffengebrauch gerechtfertigt war.
Polizeiangaben zufolge wurden die Beamten gegen 14 Uhr wegen eines Ladendiebstahls zum Drogeriemarkt Rossmann im Bahnhofsgebäude gerufen. Ein Ladendetektiv habe eine Jugendliche bemerkt, die dort etwas gestohlen habe. Sie habe mehrere Messer bei sich geführt. Der Detektiv habe sie bis zum Eintreffen der Polizei in einem Nebenraum des Geschäfts festhalten können. Beim Eintreffen der Polizei sei ein weiteres Messer festgestellt worden. Die 14-Jährige habe dieses allerdings nicht abgelegt, auch nicht als die Polizisten nach Androhung Pfefferspray eingesetzt hätten. Stattdessen habe sie versucht, die Beamten mit dem Messer anzugreifen, woraufhin ein Polizist geschossen und sie an der Hand getroffen habe.
Die Jugendliche sei daraufhin ins Krankenhaus gebracht worden. Die weiteren Ermittlungen habe das Landeskriminalamt übernommen. Weitere Details auch zum Ablauf sind bisher nicht bekannt. Am Montag hieß es, dass auch Videoaufnahmen aus dem Drogeriegeschäft ausgewertet würden. Wieviel sie zur Aufklärung beitragen werden, bleibt abzuwarten. Denn die Szenen spielten sich in einem Nebenraum des Geschäfts ab. Vor allem eine zentrale Frage stellt sich: Wenn beim Anruf bei der Polizei bereits gemeldet wurde, dass die Jugendliche Messer bei sich trug, wie konnte der Ladendetektiv die 14-Jährige dann bis zum Eintreffen der Polizei festsetzen, während die Beamten anschließend zum »letzten Mittel« griffen?
Von einem »ungewöhnlichen Vorgang« spricht Niklas Schrader. »Ich habe erhebliche Zweifel, ob der Schusswaffengebrauch rechtmäßig war«, sagt der Innenpolitiker der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus zu »nd«. Er betont, dass es sich um ein Kind gehandelt habe, und sieht einen erheblichen Aufklärungsbedarf. So wie sich der Fall derzeit darstelle, sei die Polizei mit einer konkreten Situation wahrscheinlich nicht adäquat umgegangen. So etwas komme immer wieder vor, vor allem wenn sich das Gegenüber der Polizei in einer psychologischen Ausnahmesituation befinde. Es brauche deshalb Fachkräfte bei solchen Einsätzen, die deeskalierend agierten, sagt Schrader.
Es ist keine Seltenheit, dass sich der polizeiliche Schusswaffeneinsatz im Nachhinein als unverhältnismäßig herausstellt. Erst vergangene Woche gab die Staatsanwaltschaft Dortmund bekannt, dass sie keine Notwehrlage für die tödlichen Polizeischüsse auf den 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé Anfang August 2022 sehe. Der jugendliche Flüchtling war damals durch mehrere Schüsse unter anderem aus einer Maschinenpistole getötet worden. Gegen mehrere Polizisten wird mittlerweile strafrechtlich ermittelt. In dem Einsatz, der als Einschreiten bei einem Suizidversuch begonnen hatte, sei selbst schon der Einsatz von Reizgas und Taser unverhältnismäßig gewesen, so die Staatsanwaltschaft.
Der Dortmunder Jugendliche ist damit eine von zehn Personen, die laut der Zeitschrift »Bürgerrechte und Polizei Cilip« 2022 bundesweit von der Polizei erschossen wurden. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Kommentar Seite 8
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