Werbung

Schöner leben – mit weniger Polizei

Berliner Kiezinitiativen und Experten diskutieren über Alternativen zur Strafverschärfung

  • Darius Ossami
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein sommerlicher Freitagnachmittag im Görlitzer Park in Kreuzberg. »Ich kam von der Arbeit und habe eine Kontrolle beobachtet, mich dazu gestellt und gefragt, warum die Leute kontrolliert würden. Und der Polizist meinte als Begründung: Verweilen im öffentlichen Raum ohne Grund. Da war ich einigermaßen irritiert, weil bei dem Wetter alle Leute im Görli im öffentlichen Raum verweilen.«

Als der Sozialarbeiter David Kiefer von der Initiative Wrangelkiez United diese Anekdote erzählt, lachen die etwa 40 Zuhörenden, die am Mittwochabend in das kleine Parteibüro der Neuköllner Linken gekommen sind. Klar ist trotzdem: Für viele kann solch eine harmlose Episode schnell zum Problem werden – etwa wenn sie schwarz, drogenabhängig oder psychisch auffällig sind.

Eingeladen in das Büro in Nord-Neukölln hat der Innenexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Niklas Schrader. »Defund the Police!« lautet ein Stichwort aus den USA, zu Deutsch: Streicht der Polizei die Mittel! Dahinter steht die Forderung, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf die eigentlichen Ursachen sozialer Probleme zu lenken, statt die Polizei zur Symptombekämpfung aufzurüsten. Aber ist es möglich, die Aufgaben der Polizei zu reduzieren, ohne dass man sich weniger sicher fühlt?

Wrangelkiez United richtet sich gegen Polizeikontrollen im Kiez und das Konzept der »kriminalitätsbelasteten Orte« (kbO) als ihre Grundlage. Teils komme es zu »brutalen Aktionen« seitens der Polizei, berichtet Kiefer, besonders wenn keine Öffentlichkeit da sei. Er beklagt Racial Profiling, wovon vor allem schwarze Männer betroffen seien. Dabei sei der Görlitzer Park ein wichtiger Treffpunkt für die Community. Durch die Polizeikontrollen werde das Problem aber nur verlagert. Kiefer fordert ein Umdenken: mehr Drogen-Konsumräume, mehr Anlaufstellen mit Sozialarbeiter*innen und längerfristig auch Erleichterungen im Strafrecht und im Aufenthaltsrecht.

Die Polizeiforscherin Daniela Hunold von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin konnte sich bei einem Aufenthalt im Görlitzer Park selbst von der Polizeiarbeit überzeugen. Ihr Fazit: »Die Menschen werden nicht gut behandelt und die Ursachen nicht angegangen.« Das Problem an den kbO sei, dass die Polizei ihre weitreichenden Befugnisse nutze und selbst nach möglichen Delikten suche. Aber da die Polizei nun mal den Auftrag der Gefahrenabwehr habe, sei dies ein strukturelles Problem.

Seit Jahrzehnten werde die Strafgesetzgebung weiter verschärft, bestätigt der Rechtsanwalt Benjamin Derin. Der Aufgabenbereich der Prävention sei inzwischen größer als der der Strafverfolgung. Die Gesellschaft rufe immer mehr nach Polizei und Strafrecht. Damit werde auch die Rolle der Polizei in der Gesellschaft größer.

Die Initiative Death in Custody dokumentiert Todesfälle von People of Color in Gewahrsam. In den vergangenen zwei Jahren hat sie 23 solcher Fälle in Deutschland registriert, also fast ein Fall pro Monat. Am Beispiel der tödlichen Polizeischüsse auf einen 16-jährigen Senegalesen in Dortmund im vergangenen Jahr wirft Daniela Hunold die Frage auf, ob die Polizei mit psychisch erkrankten Personen überhaupt adäquat umgehen könne.

Wenn die Polizei gerufen werde, solle in bestimmten Fällen ein »multiprofessionelles Team« deeskalieren, schlägt Linke-Politiker Schrader vor. Laut dem rot-grün-roten Koalitionsvertrag solle ein Kriseninterventionsdienst geschaffen werden, der die Polizei begleitet. In psychischen Notsituationen solle dieser helfen, zu deeskalieren, ohne dass jemand erschossen wird. Die Polizei sei dafür einfach nicht ausgebildet, so Schrader.

David Kiefer von Wrangelkiez United baut auf eigene Netzwerke. Seine Hausgemeinschaft kümmere sich gemeinsam um Junkies oder Obdachlose im Hausflur und spreche sie respektvoll an. Meist funktioniere das, aber: »Nur Sozialarbeit hilft auch nicht.« Schließlich gebe es auch Menschen im psychischen Ausnahmezustand. Auch hier rät er aber, eher die Feuerwehr zu rufen. Die trete einfach anders auf als die Polizei.

»Man kann nicht die Polizei abschaffen, solange diese gesellschaftliche Grundstruktur da ist«, sagt Rechtsanwalt Benjamin Derin. Im »Hier und Jetzt« gehe es darum zu fragen, was eigentlich die Kernaufgaben der Polizei sein sollen. Gefahrenabwehr und Strafverfolgung reproduzierten Ungleichheiten. Die Polizei habe, schon historisch betrachtet, eine große Machtfülle. Dabei müssten die meisten Aufgaben nicht bei der Polizei liegen. Dabei müsse man sich fragen, wie man zu dem Punkt kommt, dass man bestimmte Formen der Polizei nicht mehr braucht.

»Wir müssen noch viele Schritte gehen«, stellt Schrader abschließend fest. Statt die Polizei ganz abzuschaffen, ohne dass die Gesellschaft verändert wird, kommen mittelfristig wohl nur kleinteilige Reformen in Frage.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.