Vernichtungskapazitäten wachsen

Kein Hauch mehr von Vertrauen zwischen den beiden Atommächten: Russland setzte »New Start«-Vertrag mit den USA aus

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Die vier Buchstaben Start stehen für Strategic Arms Reduction Treaty – und seit Anfang der 1980er Jahre als Zeichen dafür, dass Weltuntergangsdrohungen durch Vertrauensbildung ersetzt werden können. Die USA und die Sowjetunion, deren Verpflichtungen von Russland übernommen wurden, einigten sich darauf, ihre jeweiligen strategischen Waffen zu verringern.

Doch die Illusion, dass Unterschriften unter Dokumenten der Vernunft den globalen Overkill verhindern könnten, hielt nicht. Schon unter der Regierung von US-Präsident Donald Trump wurden Abkommen zur Rüstungsbegrenzung aufgekündigt. Der 1988 unterzeichnete INF-Vertrag verbot landgestützte atomare Mittelstreckenwaffen. 2019 erklärte Trump den Austritt seines Landes, nachdem sich beide Vertragspartner vorgeworfen hatten, das Abkommen zu brechen. Es folgte der Abschied vom »Open Skies«-Abkommen. Das sicherte ab 1992 den unterzeichnenden 27 KSZE-Staaten gegenseitige Kontrollflüge zu. 2020 traten die USA aus, Russland folgte 2021. Übrig blieb der sogenannte »New Start«-Vertrag. Seit 2011 begrenzte er die Nukleararsenale Russlands und der USA auf je 800 Trägersysteme sowie 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe.

Anfang 2021 war der Vertrag vom russischen Präsidenten Wladimir Putin ebenso wie von US-Präsident Joe Biden um fünf weitere Jahre verlängert worden. Doch bereits im August 2022 gab das russische Außenministerium bekannt, man werde die vereinbarten Kontrollen von Atomwaffenbeständen vorerst aussetzen. Grund: Wegen der nach dem Überfall auf die Ukraine Ende Februar 2022 gegen Russland beschlossenen Sanktionen durften keine russischen Inspekteure in die USA fliegen.

Wenige Tage vor dem ersten Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine setzte Putin am 21. Februar 2023 die Teilnahme an »New Start« aus. Das russische Außenministerium erklärte noch am selben Tag, Russland werde sich an die Obergrenzen für nukleare Trägersysteme halten, das Verteidigungsministerium ergänzte einen Tag darauf, dass die USA – wie vereinbart – weiterhin über Verlegungen von russischen Atomstreitkräften unterrichten würden. So wolle man »Fehlalarme« vermeiden.

Bereits jetzt ist deutlich, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine zu verstärkter Aufrüstung auch im nuklearen Bereich führt. Die Waffen werden präziser und mobiler. Auch andere Staaten denken über die Option nach, sich nuklear zu bewaffnen. Von neuen Abrüstungsverträgen ist die Welt weiter entfernt denn je. Auch weil diese China einbeziehen müssten. Das Land, das immer stärker mit den USA aneinandergerät, hat bereits vor dem Ukraine-Krieg alle Vorstöße dieser Art abgewiesen.

Die Aussetzung des »New-START«-Vertrages durch Moskau kam für viele überraschend. Anfang Februar hatte Russland noch betont, die Vereinbarung am Leben erhalten zu wollen. Das wird nun schwerer denn je. Im Hintergrund besteht weiter die Möglichkeit, dass Russland, sollte es in der Ukraine militärisch in Bedrängnis geraten, taktische Atomwaffen einsetzen könnte. Globale Weiterungen inbegriffen. Zwar gibt es vor allem in den Nato-Staaten jede Menge Politiker und Sicherheitsexperten, die an einen solchen Schritt Moskaus »nicht glauben« oder ihn für »unwahrscheinlich« halten – eine Basis für verantwortliche Sicherheitspolitik ist das nicht. Zumal Putin – parallel zur faktischen Aufkündigung des Vertrages – ein Dekret unterzeichnete, mit dem neueste strategische Systeme in Dienst gestellt werden.

Rasch war von »Potemkinschen Dörfern« die Rede. Putin bluffe nur, hieß es. Man verglich dessen unverhohlene Drohungen mit der »Wunderwaffen«-Endzeit-Propaganda der Nazis, obgleich die Vernichtungskraft der aktuellen Systeme alles Gewesene bei weitem übertrifft. Westliche Dienste dagegen halten Moskaus Atomwaffen-Potenzial durchaus für gefährlich. Laut einem Bericht des US-Kongresses waren die russischen strategischen Raketenstreitkräfte zum Jahresende 2022 in der Lage – neben den auf U-Booten installierten ballistischen Raketen – über 310 Interkontinental-Raketen zu starten. Die könnten bis zu 1189 Sprengköpfe tragen. Folgt man der aktuellen Statistik der Norad-Luftverteidigung, haben die Flüge russischer Raketenträger vor den Küsten der USA zugenommen. Erstaunlich wenig hört man dagegen über Unterwasseraktivitäten der »roten Flotte«.

Dafür gibt es Berichte darüber, dass neue Vernichtungswaffen in Moskaus Streitkräfte eigenführt werden. Dazu gehört der »Burevestnik«-Flugkörper (Nato-Codename: »Skyfall«). Bei dessen Entwicklung erlitten Russlands Techniker viele Rückschläge, nun jedoch soll er einsatzbereit sein und – so russische Angaben – mit einem »speziellen« Gefechtskopf eine nahezu unbegrenzte Reichweite erzielen. So wie der »Poseidon«-Torpedo der Marine können die schwer zu entdeckenden Vernichtungsgeräte lange Zeit vor möglichen Einsatzgebieten lauern.

Die westlichen Dienste haben auch ein Auge auf die »Avangard«-Hyperschall-Gleiter, die zurzeit in ein SS-19-Raketenregiment eingeführt werden, das in der Region Orenburg stationiert ist. Ein weiteres Risiko sind die im Januar in Dienst gestellten »Zirkon«-Raketen der Marine sowie die bereits gegen die Ukraine eingesetzten hyperschallschnellen »Kinschal«-Flugkörper der Luftwaffe. Auch die können nuklear bestückt werden. Vor allem in den USA als Bedrohung empfunden wird die neue Interkontinentalrakete »Sarmat«. Sie wird im Westen auch »Satan 2« genannt. In den USA will man wissen, dass erst jüngst ein »Satan«-Test scheiterte, Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wollte die Berichte nicht kommentieren.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat zu neuem Misstrauen geführt, die Möglichkeit einer unbeabsichtigten Konfrontation zwischen Russland und der Nato ist so groß wie noch nie. Der »New Start«-Vertrag läuft noch bis 2026. Selbst wenn beide Seiten ihn quantitativ nicht verletzen sollten: Der Einsatz modernerer Waffensysteme schafft eine neue Qualität der gegenseitigen Vernichtungskapazitäten.

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