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Die beseelte Stadt

Ist Berlin verflucht und verwunschen? Unsere Kolumnistin Olga Hohmann hat auf einer Party von einer übersinnlichen Begebenheit gehört

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Besser nicht mitgehen lassen: ein klassischer Bernsteinengel
Besser nicht mitgehen lassen: ein klassischer Bernsteinengel

Auf einer Party in einem Billardcenter höre ich eine Geschichte, die mich beschäftigt:

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
dasnd.de/hohmann

Eine Frau geht in ein Geschäft auf der Potsdamer Straße, es heißt »Ave Maria«. Es ist direkt neben der berühmten »Joseph Roth Diele«. Ein Devotionalienladen für christliche Kultartikel, Artefakte, die kleinsten so groß wie ein Centstück, die größten fast lebensgroß. Ikonen verschiedener Funktion, manche spezifischer als andere, kleine Schutzheilige für das Portemonnaie, verzierter oder weniger verziert. Der Laden ist vollgestopft, aber gut sortiert, es riecht nach Weihrauch.

Die Frau sieht sich um und klaut, ohne besonderen Anlass, fast überraschend für sie selbst, einen Engel aus Bernstein. Es ist wie ein Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel mit sich selbst, der Engel ist nicht mal besonders teuer und auch nicht besonders schön, es ist nichts als eine unerwartete, aber aufregende Mutprobe. Er passt gerade so in ihre geschlossene Faust.

Kurz darauf, sie ist noch im Laden, bekommt sie einen Anruf: Der Boyfriend einer Cousine ist plötzlich schwer erkrankt, er liegt im Krankenhaus. Die Frau, der der »Ave Maria«-Laden gehört, die alleinige Besitzerin ohne Mitarbeiter*innen, bemerkt, dass etwas Tragisches passiert ist. Sie fordert die Frau auf, ihr das Telefon zu geben. Die Frau zögert einen Moment und folgt dann der Aufforderung. Die Besitzerin des Ladens spricht, am Telefon, ein »Ave Maria« für die Heilung des Freundes der Cousine.

Zuhause legt die Frau den geklauten Bernsteinengel auf den Küchentisch. Es fühlt sich so an, als ob er sie beobachten würde, sie spürt seinen Blick auf ihr ruhen. Sie legt ein Küchenhandtuch über ihn, aber sie spürt noch immer seinen mahnenden Blick. Eine halbe Stunde später fällt ihr beim Bügeln das Bügeleisen auf den großen Zeh. Ihr steigen vor Schmerz Tränen in die Augen. Am Abend hat sich der Zehennagel abgelöst. Am nächsten Tag bekommt sie einen Brief von der Hausverwaltung: 200 Euro Mieterhöhung ab sofort und die Warnung, dass das Trinkwasser mit Blei kontaminiert sei. Sie googelt: Eine Bleivergiftung kann zu irreparablen Hirnschäden führen oder, im schlimmsten Fall, sogar tödlich sein.

Die Frau geht zurück in das Geschäft namens »Ave Maria«. Als die Verkäuferin sich umdreht, legt sie den Bergsteinengel zurück zu den bernsteinfarbenen Geschwistern des Bernsteinengels. Sie kauft ein Weihrauchraumspray für vier Euro fünfzig. Nun wartet die Frau – auf die Heilung des großen Zehs, auf den bei Amazon bestellten Wasserfilter, auf den Antwortbrief des Mieterverbandes.

Drei Wochen später bekommt die Frau einen Brief von der Hausverwaltung:

Entschärfung. Das Wasser hat doch keinen erhöhten Bleigehalt, es handelte sich um eine fehlerhafte Messung.

Die Stadt ist beseelt – sie ist verflucht und verwunschen gleichzeitig. »Ave« heißt rückwärts »Eva«, wie die Sünderin, die aus dem Paradies vertriebene.

Mein erster Freund sagte, wenn wir stritten, immer zu mir: »In deinem rechten Auge wohnt der Teufel.« Ich denke: Wer wohnt denn dann in meinem linken Auge? Ein Bernsteinengel?

Ein Fluch ist immer beides: Der Einbruch des Mystischen und der Einbruch des Realen – ein bisschen so wie der Lieblingswitz meines Psychoanalytikers: In dem Moment, in dem der Mann seine Angst davor, von dem ominösen Krokodil unter dem Bett gefressen zu werden, überwunden hat, wird das Krokodil böse über seinen Unglauben – und frisst ihn auf. Besser nicht vom Glauben abfallen, andernfalls richten sich die Mächte, an die du nicht mehr glaubst, vielleicht doch gegen dich.

Mein Großvater verdichtete jedes Jahr im Winter erneut die Vitrine der kleinen Madonnenstatue im Garten, immer mit den Worten: »Damit die Mutter Gottes keine nassen Füße kriegtSeit seinem Tod ist sie verwittert, das Gesicht fast abgefallen, abgewaschen, vielleicht von den Tränen, die die Ikone um ihren verstorbenen Großvater weint. Ein Madonnenwunder. Das Glas ist von innen ganz beschlagen, es sieht eher so aus, als wäre die Madonna in einer klitzekleinen, ikonengroßen Sauna gefangen, die schwitzende trauernde Madonna.

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