»Wir lassen die Kinder nicht im Stich«

Serhii Lukaschov von SOS-Kinderdörfer über Minderjährige im Ukraine-Krieg – und dass die meisten Traumata geheilt werden können

  • Interview: Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 8 Min.
Die U-Bahn in Kiew ist in Kriegszeiten ein gefragter Zufluchtsort, so es Bombenalarm gibt.
Die U-Bahn in Kiew ist in Kriegszeiten ein gefragter Zufluchtsort, so es Bombenalarm gibt.

Herr Lukaschov, vor gut einem Jahr ist Russland in die Ukraine einmarschiert. Wie leiden die Kinder in diesem Krieg?

Interview

Serhii Lukaschov, 50, ist seit Mai 2019 Landesdirektor der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine. Lukaschov studierte Psychologie und Sozialarbeit in Kiew. Der Mann mit dem Irokesen-Haarschnitt war unter anderem in der Ukraine, in Kirgisistan, in Tadschikistan, Russland und dem Kosovo an der Einführung psychosozialer Dienste für Kinder und Familien beteiligt und half Familienunterstützungsprogramme und Pflegefamiliennetzwerke aufzubauen.

Zunächst einmal Entschuldigung, dass ich mich verspätet habe. Ich musste gerade eine Kollegin trösten. Ihr Mann ist Soldat. Er wurde jetzt bei der Verteidigung von Bachmut verletzt. Seit einem Jahr gehören solche Gespräche leider zu meinem Job. Aber zurück zu Ihrer Frage. Dieser Krieg ist eine Tragödie für das ganze Land, aber die Kinder leiden ganz besonders. Sie sind die verwundbarste Bevölkerungsgruppe. Die offiziell bestätigten Zahlen sind zwar niedriger, aber wir befürchten, dass bereits Tausende Kinder getötet wurden. Aus Dörfern oder Städten, die von der russischen Armee besetzt sind, haben wir keine verlässlichen Informationen.

Was passiert mit den Kindern, die nach Russland deportiert werden?

Was mit den verschleppten Kindern gemacht wird, ist ein gewaltiges Verbrechen. Man lässt sie einfach verschwinden, gibt ihnen neue Namen, Identitäten und Papiere. Sie werden über das ganze riesige Land verteilt. Wir vermuten, dass deportierte Kinder in Russland gezwungen wurden, an Lagern mit militärischer Ausbildung teilzunehmen. Aber wir wissen nicht, ob sie später auch eingezogen wurden, um gegen die Ukraine zu kämpfen. Oft wird der Kontakt zu den Verwandten komplett abgebrochen. Wir werden nach dem Ende des Krieges wohl noch Jahre nach diesen Kindern suchen müssen.

Und wie geht es den Kindern in der Ukraine?

Viele Kinder haben Eltern, Familienmitglieder und Freunde verloren. Die Häuser, in denen sie gelebt haben, sind zerstört. Die Schulen, in denen sie unterrichtet wurden, stehen nicht mehr. Ihnen wird und wurde der Zugang zu Bildung verwehrt, sie leben oder lebten unter sehr beengten Verhältnissen. Sie haben Angriffe miterlebt und unter Beschuss und auf der Flucht im eigenen Land große Ängste ausgestanden. Die meisten Kinder haben solche unmittelbaren Bedrohungen zum Glück nicht erleben müssen, aber auch sie sind großem Stress und Angst ausgesetzt.

Werden Kinder jetzt auch verstärkt Opfer häuslicher Gewalt?

Dazu liegen keine offiziellen Zahlen vor. Aber wenn Kinder in teilweise stark überfüllten Unterkünften mit manchmal extrem gestressten, traumatisierten und überforderten Erwachsenen zusammenleben, steigt die Gefahr, dass es zu häuslicher Gewalt kommt. Wir schulen deshalb unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie sie die Anzeichen von Kindesmissbrauch frühzeitig erkennen können und arbeiten eng mit den örtlichen Behörden zusammen. Außerdem bringen wir den Kindern bei, wie sie sich wehren und wo sie Schutz und Hilfe suchen können.

Der Krieg hat vielen Familien die Lebensgrundlage entzogen. Kommt es deshalb zu mehr sexueller Ausbeutung, Zwangsprostitution und Menschenhandel?

Um dieser Gefahr vorzubeugen, unterstützen wir besonders von Armut gefährdete Familien unter anderem finanziell, damit sie nicht nach gefährlichen und ihre Würde verletzenden Wegen suchen müssen, irgendwie über die Runden zu kommen. Die Menschen, die derzeit von uns unterstützt werden, sind also nicht akut gefährdet, aber in der Ukraine gibt es derzeit etwa sieben Millionen Menschen in Not. Die Gefahr ist für viele also real.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass etwa 1,5 Millionen Kinder in der Ukraine ein hohes Risiko haben, an Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen zu erkranken.

Tatsächlich sind viele Kinder schon jetzt traumatisiert. Sie leiden unter Panikattacken, haben Schlafprobleme, werden aggressiv oder depressiv und ganz in sich gekehrt, einige wenige sind zeitweise verstummt oder wurden sogar selbstmordgefährdet.

Was macht SOS Kinderdörfer, um diesen Kindern zu helfen?

Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um Leben zu retten und zu verbessern. Vor allem in den letzten Tagen vor dem Kriegsausbruch und in den ersten Wochen des Krieges haben wir Kinder aus den besonders gefährdeten Städten im Osten und aus unserem Kinderdorf in Browary, einem Vorort von Kiew, evakuiert und in Sicherheit gebracht. Die meisten sind seit Beginn des Krieges in SOS-Kinderdörfern in Polen untergebracht, andere auch in Italien, Österreich, der Tschechischen Republik, Rumänien, Estland und Deutschland. Ich bin stolz darauf, dass wir rechtzeitig gehandelt haben und bislang keines der Kinder, die unter unserer direkten Obhut stehen, verletzt oder gar getötet wurde.

Wie kann Ihre Organisation noch helfen?

Wir haben unsere Angebote seit Kriegsbeginn massiv ausgeweitet. Vor dem 24. Februar letzten Jahres haben wir rund 2000 Kinder pro Jahr erreicht, im Jahr 2022 waren es mehr als 125 000 Menschen in der Ukraine, und wir arbeiten daran, die Zahl weiter zu erhöhen. Wir helfen Menschen, die zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden sind, Unterkünfte zu finden, und bieten in unseren Einrichtungen und mit unseren mobilen Teams psychosoziale Unterstützung an. Unser SOS-Kinderdorf in Browary dient jetzt als Unterstützungszentrum und Zufluchtsort für Binnenvertriebene. Darüber hinaus haben wir ein spezielles Programm zur langfristigen Unterstützung von verwundeten Kindern ins Leben gerufen. Wir übernehmen unter anderem die Kosten für medizinische Versorgung, Reha-Maßnahmen und Prothesen.

Werden Sie in der Ukraine neue SOS-Kinderdörfer bauen müssen?

An der Front sterben jeden Tag Eltern. Das ist natürlich immer schrecklich. Ein Fall hat mich besonders beschäftigt. Ein alleinstehender Vater – die Mutter war bereits vor einigen Jahren gestorben – wollte mit seinen beiden Kindern unbedingt in seinem Haus in unmittelbarer Nähe der Front ausharren. Als er gerade im Garten war, wurde er von russischem Beschuss getroffen und starb. Die Kinder blieben unverletzt. Sie verbrachten drei Tage mit dem getöteten Vater auf dem Grundstück, bevor sie evakuiert werden konnten. Zunächst haben wir die beiden in unserem Sommerlager untergebracht, wo sie sofort psychologische Betreuung erhielten. Mittlerweile haben wir eine gute Pflegefamilie für sie gefunden. Leider ist dies kein Einzelfall.

Können die Traumata der Kinder jemals geheilt werden? Oder wächst in der Ukraine eine verlorene Generation heran?

Je schlimmer das Trauma, desto schwieriger ist es, es zu heilen und desto länger dauert es. Aber ich bin optimistisch, dass wir die seelischen Verletzungen der meisten Kinder in den Griff bekommen können.

Was macht Sie so optimistisch?

Kinder sind in gewisser Hinsicht oft stärker und resilienter als Erwachsene. Sie sind flexibel und sehr anpassungsfähig. Sie sind oft sehr zukunftsorientiert und blicken nicht so sehr zurück. Kinder wollen nicht sterben, sie wollen überleben und leben. Und wir helfen ihnen, zu überleben und zur Normalität zurückzukehren. Ob sich ein Trauma manifestiert, hängt auch davon ab, wie professionell und wie schnell Hilfe geleistet werden kann. Uns kommt dabei zugute, dass SOS-Kinderdörfer seit Jahrzehnten in Kriegs- und Krisengebieten arbeitet. Wir haben viel Erfahrung mit der Therapie von Traumata.

Aber haben Sie dafür auch ausreichend Personal?

Nein. Viele qualifizierte Kräfte haben das Land seit Kriegsbeginn verlassen. Ich kann es niemandem verdenken. Deshalb bilden wir bereits neue Fachkräfte aus. Was bleibt uns anderes übrig? Traumatisierte Kinder zu heilen, ist schwierig und teuer. Aber es ist machbar. Und wir sind verpflichtet, alles zu tun, damit möglichst viele Kinder die Schrecken des Krieges so gut wie möglich verarbeiten können. Wir lassen die Kinder nicht im Stich.

Gibt es Opfer unter Ihren Mitarbeitern?

Zum Glück nicht. Zwar gibt es in der ganzen Ukraine keinen wirklich sicheren Platz – hier in Kiew gab es zuletzt vor drei Tagen Beschuss – aber wir arbeiten nicht in den gefährlichsten Gebieten. Dort kooperieren wir mit lokalen, von uns finanzierten Partnerorganisationen, die die Gegebenheiten vor Ort genau kennen. Das sind sehr mutige Menschen. Bei der Verteilung humanitärer Güter wurde in der Region Charkiw einer der Mitarbeiter durch russischen Beschuss verwundet. Mitarbeiter anderer humanitärer Organisationen sind sogar während des Einsatzes getötet worden.

Werden humanitäre Helfer zur Zielscheibe?

Aus den besetzten Gebieten erhalten wir immer wieder Informationen, dass humanitäre Helfer in ihrer Arbeit eingeschränkt, bedroht, verfolgt, verhaftet oder sogar entführt werden. Eine meiner Kolleginnen war in den besetzten Gebieten tätig. Doch nach zwei Monaten musste sie fliehen. Die Besatzer drohten ihr: »Morgen bist du weg – oder du wirst verhaftet.« Die Besatzer akzeptieren keine unabhängigen Helfer. Deshalb ist die Arbeit der Helfer so gefährlich.

Wie geht es Ihnen persönlich? Sie sehen müde aus …

Natürlich bin ich müde. Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen bekomme ich zu wenig Schlaf. Wir arbeiten lange, haben seit einem Jahr keine Pause mehr gemacht. Ich reise viel, weil ich Teams und lokale Partner im ganzen Land besuchen muss. Manchmal schlafe ich in Zügen, wenn ich kreuz und quer im Land unterwegs bin. Aber ich darf und will mich nicht beklagen: Meine Belastung ist nicht zu vergleichen mit den Entbehrungen, die so viele Familien erleiden, die alles verloren haben. Ich bin hier, um ihnen zu helfen.

Dienen ehemalige SOS-Kinder jetzt in der Armee?

Ich weiß, dass drei junge Männer, die früher in unserer Obhut waren, sich ganz zu Beginn des Krieges freiwillig gemeldet haben. Als das russische Militär sich Kiew näherte, wollten sie unbedingt Browary, die Stadt, in der unser Kinderdorf liegt, verteidigen. Seitdem sind sie in der Armee. Ich hoffe, dass sie in Sicherheit sind. Ich weiß, dass bisher noch keines unserer ehemaligen Kinder, die in der Armee dienen, gestorben ist. Bis jetzt.

Können Sie sich vorstellen, Ihr Land mit der Waffe zu verteidigen?

Natürlich will ich nicht an die Front. Natürlich würde ich es vorziehen, weiterhin meine Arbeit tun zu können, die ebenfalls sehr wichtig für unser Land ist. Aber wenn ich einen Einberufungsbescheid erhalte – und das kann jederzeit passieren – werde ich natürlich meinen Dienst antreten. Ich bin nicht politisch engagiert. Aber die Verteidigung unseres Landes ist eine Frage des Überlebens. Nicht nur für uns. Wenn die Ukraine fällt, fallen auch andere Länder: Belarus, Moldau und wer weiß, wer noch? Wir kämpfen für ganz Europa.

Luftalarm in Lwiw: Eine junge Mutter mit ihrem Kind und ihrem Baby in einem Luftschutzbunker.
Luftalarm in Lwiw: Eine junge Mutter mit ihrem Kind und ihrem Baby in einem Luftschutzbunker.
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