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»Die Freundlichkeit trug weibliche Namen«
Die Juristin Valentyna Sorokina über ihre Flucht aus der Ukraine und die Rolle als Alleinerziehende auf Zeit
Wann haben Sie entschieden, mit Ihrer Mutter und Ihren Kindern zu fliehen?
Ich habe die Entscheidung sehr schnell nach Ausbruch des Krieges getroffen, als ich in den Nachrichten hörte, dass russische Soldaten am 3. März ein Atomkraftwerk in Enerhodar nahe meiner Heimatstadt Dnipro beschossen hatten. Am nächsten Tag haben wir mit einem Evakuierungszug das Land verlassen. Als am 14. Januar dieses Jahres eine Rakete in ein Wohnhaus in Dnipro einschlug und sehr viele Menschen starben, ist mir klar geworden, dass die Entscheidung richtig war. Auch unser Zuhause wäre eingekracht wie ein Kartenhaus.
Ihre Töchter sind dreieinhalb und sechs Jahre alt. Wie erklären Sie ihnen den Krieg?
Als der Alarm losging und die ersten Raketen Richtung Ukraine flogen, haben wir uns im Bad eingeschlossen und für die Kinder eine Decke hingelegt. Wir haben ihnen von Anfang an nichts verheimlicht, sondern erklärt, dass Russland die Ukraine angreift. Die beiden haben mich gefragt, warum so etwas passiert. Ich konnte das nicht beantworten. Mir ist einfach nichts eingefallen. Ich glaube, dass kein*e Ukrainer*in darauf eine Antwort hat. Ich habe dann die russische Argumentation eines Präventivschlags aufgegriffen und ihnen gesagt, dass das Unsinn ist. Ich sagte, das sei so, als würden sie im Kindergarten ein anderes Kind verprügeln, nur weil sie denken, dass es ihnen etwas wegnehmen will.
Ihr Mann hat sich gleich zu Anfang des Krieges freiwillig zur Armee gemeldet. Sie haben ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Wie fühlt es sich an, alleinerziehend auf Zeit zu sein?
Es ist sehr schwer. Am schwierigsten ist es für meine Mutter und für die Kinder, für sie ist es schwieriger als für mich selbst. Wenn die Kinder tagsüber spielen, sind sie abgelenkt und ich kann etwas entspannen. Aber abends, wenn der Tag zu Ende geht, stellen sie Fragen. Sie weinen fast jeden Tag. Vor allem die Jüngere bereitet mir Sorgen. Die Ältere gewöhnt sich schneller an die neue Situation und spricht auch schon viel besser Deutsch. Aber die Kleine kommt nicht klar. Sie sagt oft, dass sie zurück möchte. Wenn sie mit ihrem Vater telefoniert, sagt sie jedes Mal: »Papa, ich wünsche dir, dass dich keine Rakete trifft und dass das Haus keine Rakete trifft und dass die Katze auch keine Rakete trifft.«
Wie war die Rollenverteilung zwischen Ihrem Mann und Ihnen vor dem Krieg?
Vor dem Krieg war ich in meinem zweiten Mutterschaftsurlaub. In der Ukraine kann er bis zum dritten Geburtstag des Kindes dauern. Ich habe es geliebt, ganz in die Mutterschaft einzutauchen. Die große Unterbrechung in meinem Berufsleben störte mich nicht allzu sehr, denn mein Mann war ein zuverlässiger Rückhalt für unsere Familie. Er ist auch eine große Stütze für meine Kinder und war derjenige, der sie zu all ihren sportlichen Aktivitäten brachte, mit ihnen spazieren ging und Einkäufe erledigte.
Vielen ukrainischen Familien geht es wie Ihnen: Die Männer sind in der Armee und die Frauen kümmern sich um die Kinder. Wie hat der Krieg die Rolle von Frauen verändert?
Als Frau muss ich innerlich sehr stark sein. Ich brauche sehr viel Energie, wenn die Kinder weinen und der ganze Stress plötzlich zutage befördert wird. Es ist eine enorme Anstrengung zu versuchen, ihnen ihre Kindheit zu erhalten. Im ersten halben Jahr hatte ich nicht die Kraft, mir Familienfotos von früher anzuschauen. Aber irgendwann habe ich damit angefangen und gemerkt, dass es den Kindern Hoffnung gibt. Darin sehe ich meine Aufgabe in meiner Rolle als Frau und Mutter in der Familie.
Woraus schöpfen Sie Kraft?
Diese Frage ist schwer zu beantworten. Ich empfinde es so, dass ich diese innere Stärke nur habe, weil ich merke, dass die Kinder mich brauchen. Ihnen geht es besser, sie finden sich hier immer besser zurecht. Bei mir ist es umgekehrt. Ich habe immer weniger Energie. Ich denke, dass ich das Land nicht verlassen hätte, wenn ich keine Kinder hätte, oder ich wäre schon längst zurückgekehrt. Ich sehe in den Medien, dass Orte, an denen ich früher mit meiner Oma spazieren gegangen bin, zerstört werden, und begreife, dass es sie niemals wieder geben wird. Das reißt einem den Boden unter den Füßen weg. Aber die Wut, die dabei aufkommt, gibt auch Kraft.
Wie hat sich die Rolle der Männer ver‑
ändert?
Die Rolle des Mannes wird sich nicht ändern. Dieser Krieg wird meinen Kindern nie den Vater nehmen. Wir telefonieren oft miteinander, auch wenn wir uns nicht immer erreichen können. Unsere Liebe lassen wir uns nicht kaputtmachen. Mein Mann ist der Papa der Kinder und das bleibt auch so. Ich glaube fest daran, dass meine Familie wieder zusammenkommt, und hoffe, dass ich dann nicht mehr eine solche innere Härte und Stärke aufbauen muss.
In der nächsten Woche wird der Internationale Frauentag gefeiert. Was bedeutet das für Sie?
Obwohl ich die Geschichte dieses Tages kenne, war er für mich immer nur mit Blumen und Geschenken meines Mannes verbunden. Der 8. März 2022 aber war ein besonderer Tag. Wir sind das erste Mal in einer Wohnung in Berlin aufgewacht, unserem Zufluchtsort. Am Abend zuvor waren wir mit dem Zug am Berliner Hauptbahnhof angekommen. Ein Freiwilliger brachte uns zu einer Frau mit einem Jungen, der ein Schild in der Hand hielt: Sie seien bereit, einer Frau und einem Kind Asyl zu gewähren. Als die Frau uns sah, leuchteten ihre Augen. Bei ihr zu Hause warteten ihr Mann und eine andere Frau. Ich werde nie vergessen, wie sie sich auf die Türschwelle setzte und ihre Arme nach meinen Kindern ausstreckte. Am nächsten Tag brachten deutsche Nachbarinnen Kleidung, Spielzeug, Lebensmittel und Hygieneartikel. Die Freundlichkeit trug weibliche Namen: Anna, Fanny, Sabrina, Erika, Elke, Cindy, Christina, Hanna und viele mehr, ein außergewöhnlicher Kreis weiblicher Kraft. In der Ukraine habe ich den Witz gehört, dass, wenn Frauen die Welt regierten, die Länder sich nie bekämpfen, sondern höchstens nicht mehr miteinander reden würden. An jedem Witz ist etwas Wahres dran.
Der Krieg begann vor über einem Jahr. Wie geht es weiter?
Der Krieg hat nicht erst vor einem Jahr begonnen, sondern 2014. In jenem Jahr besetzte Russland den östlichen Teil der Ukraine unter dem Vorwand, die russischsprachige Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg in der Ukraine zu schützen. Die russische Propaganda hat die Bevölkerung der besetzten Gebiete gegen die Ukraine aufgehetzt und behauptet, die Ukraine befinde sich im Krieg mit dem Donbass und hasse die Russen. Aber als russischsprachige Ukrainerin kann ich genau sagen, vor wem meine Familie geflohen ist. Ich glaube, die Ukraine wird durchhalten. Wenn meine Kinder mich fragen, wie sich ein kleines gegen ein so großes Land verteidigen könne, erzähle ich ihnen die Geschichte von David und Goliath.
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