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Zukunft in Trümmern
Mehmet Sönmez will seine Familie aus dem zerstörten Gaziantep nach Berlin holen – stattdessen erhält er einen Ausreisebescheid
Im Wohnzimmer steht ein weißes Stockbett. Mehmet hat es für seine zwei Kinder gekauft. Statt kleiner Matratzen liegen auf den Lattenrosten ein Rollkoffer und ein Umzugskarton. Denn seit 17 Monaten wartet Mehmet darauf, dass seine Kinder, sieben und neun Jahre alt, nach Deutschland einreisen dürfen. Wenn es nach der Berliner Ausländerbehörde ginge, müsste der 33-Jährige vielmehr zu ihnen zurückkehren – nach Gaziantep, eine türkische Stadt nahe der Grenze zu Syrien. Dorthin, wo am 6. Februar das schlimmste Erdbeben in der türkischen Geschichte ganze Städte zerstörte, Zehntausende Menschen tötete und auch das Zuhause seiner Familie in Schutt legte.
Mehmet heißt eigentlich Muhammet Sönmez, so steht es in seinem Ausweis, aber alle nennen ihn Mehmet. Seit 2019 lebt er in Berlin. An einem kaltregnerischen Donnerstagabend Ende Februar hat er in seine Wohnung in Moabit eingeladen. Auf dem Couchtisch stehen zwei Teller mit Baklava, die hat Mehmet an seinem Arbeitsplatz in einer Baklava-Manufaktur selbst hergestellt. Daneben fünf Gläser türkischer Schwarztee, denn gegenüber der Journalistin sitzen drei Freunde von Mehmet auf dem Sofa. Zwei von ihnen übersetzen zwischen Deutsch und Türkisch, der dritte ist Philipp, Mehmets Nachbar, er kennt die Geschichte bereits bis ins Detail.
Am 8. Februar, zwei Tage nach dem Beben, wird Mehmet von der Ausländerbehörde zur Ausreise aufgefordert. Sie gibt ihm bis zum 31. März Zeit, Deutschland zu verlassen und in die Türkei zurückzukehren – sonst droht ihm die Abschiebung. Dabei steht auf seinen deutschen Papieren: Aufenthaltserlaubnis bis 2025.
Um zu erklären, warum das Landesamt für Einwanderung (LEA) sein fünfjähriges Visum für ungültig erklärt, muss man etwas ausholen: Mehmet lebt mit seiner Frau und den zwei gemeinsamen Kindern in Gaziantep, bis er vor sieben Jahren seine neue Freundin kennenlernt und die Familie verlässt. Die beiden heiraten 2017 in Bulgarien, dem Heimatland der Frau. 2019 ziehen sie zusammen nach Berlin, die Lebensbedingungen in Bulgarien seien zu schwierig gewesen, erzählt Mehmet. 2020 erhält er, basierend auf der EU-Ehe, einen deutschen Aufenthaltstitel.
2021 lassen sich die beiden wieder scheiden. »Frau hat Kinder, aber nicht meine. Heirat fertig«, fasst Mehmet die Situation auf Deutsch zusammen. Sie habe ein Parallelleben geführt und ihm über die Jahre nichts von ihren Kindern erzählt, die sie mit Geldsendungen versorgt.
Im Zuge der Trennung nähern sich Mehmet und seine Ex-Frau wieder an. Sie heiraten wieder und im Herbst 2021 beantragt Mehmet die Familienzusammenführung. Er möchte mit seiner Familie in Berlin leben, nicht zurück nach Gaziantep ziehen. »Ich habe mich hier eingewöhnt, ich arbeite in der Manufaktur, habe Freunde, habe sogar meinen Schlüssel beim Nachbarn hinterlegt«, sagt er.
Doch das LEA reagiert ein Jahr lang nicht auf seine Anfrage. Stattdessen unterstellt es ihm im November vergangenen Jahres eine Scheinehe. Der Vorwurf basiert womöglich auf einer anonymen Anschuldigung. Bereits 2020 ging ein Brief bei der Polizei ein, in dem Mehmet beschuldigt wird, seine bulgarische Frau nur für die Papiere geheiratet zu haben. In ungelenker Schreibschrift gibt der oder die Denunziant*in Details über das Leben des Beschuldigten preis – es muss jemand aus Mehmets näherem Umfeld gewesen sein. Das Schreiben endet mit dem Satz: »Das ist die Wahrheit.« Es liegt Mehmet erst seit November 2022 vor.
Eine sogenannte Scheinehe besteht, wenn gegenüber der Ausländerbehörde eine eheliche Lebenspartnerschaft vorgetäuscht wird, um damit einen Aufenthaltstitel zu bekommen. Diese Tatsache allein ist nicht strafbar, das Angeben falscher oder unvollständiger Informationen hingegen schon. Hält die Ausländerbehörde den Verdacht für begründet, kann sie auch nachträglich den Aufenthaltstitel entziehen. Und genau das tut sie in Mehmets Fall.
Philipp, Freund und Nachbar von Mehmet, schockiert das Vorgehen der Behörde. »Es kann doch nicht sein, dass eine anonyme Denunziation als Begründung ausreicht«, wundert er sich. Auch Alexander Gorski, ein Anwalt für Migrationsrecht, hält das Vorgehen für problematisch. Seiner Erfahrung nach würden Ausländerbehörden bei der Ausstellung oder Verlängerung des Visums Fragen stellen, um eine Scheinehe festzustellen. »Wenn das erst fünf Jahre nach der Eheschließung und nur auf Grundlage eines anonymen Schreibens passiert, dann klingt das mehr als fragwürdig.«
Prinzipiell sieht Gorski in den ausländerrechtlichen Regelungen zur Scheinehe eine im Gesetz angelegte Ungleichbehandlung – insbesondere, wenn die Ausländerbehörde aufgrund »falscher oder unvollständiger Angaben« ein Strafverfahren einleitet. »Das wird zu einem Sonderstrafrecht für Leute ohne deutschen Pass. Eine Ehe kann aus so vielen unterschiedlichen Gründen geschlossen werden, aber den Ermittlungsverfahren liegt oft der Generalverdacht zugrunde, dass Leute nur für den Aufenthaltstitel heiraten.«
Das LEA stellt den Sachverhalt auf nd-Nachfrage anders dar. Nicht das anonyme Schreiben, sondern weitere »im Bescheid aufgeführte Umstände« hätten zur Ungültigkeit seines »durch Täuschung erlangten Freizügigkeitsrechts« geführt. Ausschlaggebend seien Hinweise des deutschen Konsulats in Ankara gewesen, das bei der Bearbeitung von Mehmets Antrag auf Familienzusammenführung seine frühere Ehe angezweifelt hätte. In einer Erklärung vom 20. Februar schreibt die Ausländerbehörde, dass Mehmet offensichtlich keine Ehe mit seiner bulgarischen Frau geführt habe, weil er unter anderem Kontakt zu seiner Familie in der Türkei gehalten und allein gelebt habe.
Mehmet weist diese Vorwürfe von sich: Natürlich habe er während seiner zweiten Ehe weiterhin Unterhalt gezahlt und deshalb mit seiner damaligen Ex-Frau kommuniziert. »Ich habe versucht, alles richtig zu machen.« Doch wie soll er beweisen, dass die Ehe nicht auf einer Täuschung beruhte? »Ich bin an einem Punkt angelangt, wo ich überlegt habe aufzugeben«, sagt er. »Aber jetzt habe ich mich aufgerafft und will nicht aufgeben, bevor ich nicht rechtlich alles versucht habe.« Gegen die Aufforderung zur Ausreise hat sein Anwalt Einspruch eingelegt.
Auch wenn ein Gerichtsentscheid noch aussteht – der Zeitpunkt des Verfahrens könnte nicht schlechter sein. Am 8. Februar, als das LEA den Ausreisebescheid ausstellt, ist Mehmet gerade in Gaziantep und hilft, wo er kann. Am frühen Morgen des 6. Februar hatte er die schrecklichen Nachrichten gehört: Erdbeben, auch in seiner Heimatstadt. »Ich habe sofort das Auto vollgepackt mit Essen und Windeln und bin losgefahren«, erinnert sich Mehmet. Montagnacht erreicht er die türkische Grenze, Dienstagabend kommt er in Gaziantep an. »Als ich die Stadt gesehen habe, bin ich zusammengebrochen. Kein Stein war mehr auf dem anderen.« Das Haus, in dem seine Frau und die beiden Kinder leben, ist zwar nicht eingestürzt. »Aber ich wünschte fast, es wäre«, sagt Mehmet. Denn alles im Haus ist kaputt, die Wände, die Einrichtung, es ist unbewohnbar. »Wir haben nur ein paar Sachen gepackt und sind sofort raus. Niemand ist in der Stadt geblieben, alle mussten raus aufs Land.«
Die Familie fährt nach Salkım, ein Dorf, etwa eine Dreiviertelstunde Autofahrt von Gaziantep entfernt. Sie kommt dort bei Mehmets Eltern unter, wie andere Verwandte. »Stell dir vor, in dieser Wohnung leben 15 Leute«, sagt Mehmet und macht eine ausladende Bewegung in seiner Berliner Zwei-Zimmer-Wohnung. Sicher ist seine Familie in Salkım nicht. Mehmet beschreibt die Anspannung, die Angst vor Nachbeben: »Wir sitzen alle in einem Raum, ich habe meinen Sohn auf dem Arm, neben mir mein Vater, aber wir reden nicht miteinander. Alle schauen nur auf die Glühbirne an der Decke. Wenn sie wackelt, müssen wir schnell raus.«
Eine Woche bleibt Mehmet in der Türkei. Zurück in Berlin geht er sofort zur Ausländerbehörde – er will so schnell wie möglich seine Frau und Kinder nachholen. Berlin hat den Familiennachzug für Angehörige aus den betroffenen Erdbebengebieten erleichtert. Für Mitglieder der Kernfamilie gilt die Globalzustimmung: Ohne aufwendige Prüfung werden die Anträge priorisiert und, sofern alle Dokumente verliegen, innerhalb von fünf Tagen bearbeitet. »Aber die Ausländerbehörde hat mir nur das mitgegeben«, sagt Mehmet und deutet auf den Ausreisebescheid. Als ausreisepflichtiger Ausländer entfällt sein Recht auf Familiennachzug, egal ob die Familie vom Erdbeben betroffen ist oder nicht.
Trotz des unermesslichen Ausmaßes der Zerstörung bleibt die Ausreisepflicht für Menschen aus den betroffenen Gebieten bestehen. Die Begründung des LEA: »Sowohl freiwillige Ausreisen als auch Abschiebungen können beziehungsweise müssen in andere Regionen, die nicht vom Erdbeben betroffen sind, erfolgen.« Engelhard Mazanke, Leiter der Ausländerbehörde, fügt bei einer Informationsveranstaltung zu Visa-Regelungen vergangene Woche hinzu: Die Ausreisepflicht für Syrer*innen und Türk*innen aufzuheben, sei Sache des Bundes. Das Land Berlin könne lediglich einen dreimonatigen Abschiebungsstopp in die beiden Länder beschließen. Das hat es bisher nicht getan.
Mehmet hat Angst. »Wenn ich einmal weg bin, kann ich nicht mehr zurückkommen. Von einem Moment auf den anderen wäre dann alles vorbei.« Genau deswegen macht er seine Geschichte öffentlich. Seine Freunde unterstützen ihn dabei. Es empört sie, dass die Ausländerbehörde aus einem Verdacht heraus Mehmets Existenz infrage stellt. »Bei einer deutschen Ehe wollen sie keine Beweise, dass das wahre Liebe ist«, sagt Philipp. Der Vorwurf der Scheinehe, das Warten auf den Familiennachzug, der Ausreisebescheid – das alles hat Mehmets Vertrauen in die Behörden erschüttert: »Ich fühle mich als Mensch zweiter Klasse behandelt.«
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