»Gruppe Lina E.«: Ein Höllenritt vor Gericht

Das Verfahren gegen die vermeintliche »Gruppe Lina E.« geht womöglich erneut in eine Verlängerung

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.
Bei linken Demonstrationen wird immer wieder die Freilassung von Lina E. gefordert.
Bei linken Demonstrationen wird immer wieder die Freilassung von Lina E. gefordert.

Zum vermeintlichen Abschluss eines langwierigen und mehrfach verlängerten Gerichtsverfahrens ging es um blanke Raserei. Am 88. Verhandlungstag eines Prozesses gegen vier Nazigegner, der vor nunmehr bereits 18 Monaten am Oberlandgericht Dresden begann und nach den Plänen des Gerichts vor Ostern hätte enden sollen, wurde über einen Bericht des sächsischen Landeskriminalamts (LKA) zu der Frage gestritten, wie schnell man aus dem Leipziger Stadtteil Connewitz nach Eisenach kommt. Ein gängiger Routenplaner beziffert die Fahrzeit auf 2:04 Stunden. Ein LKA-Experte geht nach einer Testfahrt allerdings davon aus, dass die Strecke auch in anderthalb Stunden zu schaffen sei. Das sei grotesk, sagte ein Verteidiger: Dazu müsste man im Schnitt 145 Kilometer pro Stunde fahren und in der Spitze mit weit über 200 Sachen über die Autobahn brettern.

Der LKA-Bericht soll ein Alibi eines der vier Angeklagten erschüttern, die von Leipzig aus agierten und, so der Vorwurf der Generalbundesanwaltschaft (GBA) als Anklagebehörde, zwischen August 2018 und Februar 2020 insgesamt acht brutale Übergriffe auf Rechtsextreme verübt haben sollen, bei denen 13 Menschen geschädigt wurden. Zweimal wurde dabei auch die Nazikneipe »Bull’s Eye« in Eisenach angegriffen. Die Täter, denen eine »militante linksextremistische Ideologie« unterstellt wird, sollen dabei als »kriminelle Vereinigung« agiert haben. Als führenden Kopf und »Kommandogeberin« sieht die Anklagebehörde die 28-jährige Studentin Lina E., die im November 2020 verhaftet, unter spektakulären Umständen wie eine Terroristin beim GBA in Karlsruhe vorgeführt wurde und seit nunmehr 856 Tagen in Untersuchungshaft sitzt.

Die Verteidigung hat die Existenz einer kriminellen Vereinigung stets bestritten. In einer Erklärung vom November 2021 hatte sie den Ermittlern der »Soko Linx« beim sächsischen LKA vorgeworfen, aus etlichen Körperverletzungsdelikten eine Vereinigung »konstruiert« zu haben. Die Behörde habe dadurch weitreichende Befugnisse zum Ausspähen und Überwachen erhalten, wie im Prozess deutlich wurde: Als Beweismittel dienten immer wieder Mitschnitte von Gesprächen, Handydaten und Überwachungsfotos. Die Verteidiger sprechen von einem »politisierten Verfahren«. Der Vorwurf flammte auch kurz vor Ende der Beweisaufnahme anhand des Raserei-Gutachtens noch einmal auf. Lina E.s Verteidiger Ulrich von Klinggräf erklärte, das LKA halte entgegen jeder Plausibilität auch einen »Höllenritt durch die Nacht« für möglich, nur um ihre Thesen zum Agieren der Gruppe und der möglichen Beteiligung einzelner Angeklagter an konkreten Taten zu untermauern. Das sei ein weiterer Beleg für die »krachende Einseitigkeit« der Ermittler. Hans Schlüter-Staats, der Vorsitzende Richter in der Staatsschutzkammer des Dresdner OLG, nahm diese dagegen in Schutz und betonte, die Polizeibeamten hätten »in beide Richtungen Extremes geleistet«.

Die Kammer wird, so viel kann als sicher gelten, die Angeklagten verurteilen. Ein »glatter Freispruch«, hatte Schlüter-Staats schon im September salopp erklärt, »steht ja zurzeit nicht im Raum«. Damals hatte das Gericht einen Kronzeugen gehört, dessen Auftauchen dem Prozess eine dramatische Wendung gegeben hatte. Zuvor hatte sich die Anklage vor allem damit äußerst schwer getan, den Vorwurf einer »kriminellen Vereinigung« zu erhärten. Im Juni 2022 war dann bekannt geworden, dass ein Szene-Insider bei den Ermittlungsbehörden auspackt – ein für die militante linke Szene extrem ungewöhnlicher Vorgang.

Der zum Kronzeugen gewordene Johannes D. hatte dieser Szene in Leipzig lange angehört und war nach eigenen Angaben mindestens an einem der Übergriffe auf das »Bull’s Eye« beteiligt, wofür er unlängst am Landgericht Meiningen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Er wurde aus der Szene allerdings verstoßen, nachdem eine frühere Lebensgefährtin ihm öffentlich schwere psychische und sexuelle Gewalt vorgeworfen hatte. Nachdem die Szene »Städteverbote« aussprach und ihn unter Druck setzte, habe er sich entschlossen auszupacken. Er wolle wieder »ein selbstbestimmtes Leben führen«, sagte er im Zeugenstand, wo er unter anderem über gemeinsame Trainings für Angriffe auf Neonazis berichtete.

Für seine einstigen Mitstreiter stieg damit die Wahrscheinlichkeit harter Urteile gravierend. In der Szene wird der maßgeblich durch den Kronzeugen beeinflusste Prozessverlauf als schwere Niederlage und ebenfalls als eine Art »Höllenritt« empfunden. In einer umfangreichen Analyse, die Ende Februar auf linken Internetportalen veröffentlicht wurde, wird eingeräumt, das »Verfahren und alles drum herum« habe »extrem viel Lähmung, Resignation und wenig Erfreuliches hervorgebracht«. Gefordert wird eine Auseinandersetzung mit patriarchalen Strukturen und eine Neuaufstellung. Man müsse »Gruppen, Strukturen und Zusammenhänge ersinnen, die sich kollektiv der ganzen Scheiße entgegenstellen, ohne Einzelne unterzubuttern«.

Diese Debatte dürfte länger andauern – wie nun auch der Dresdner Prozess. Dort hatte das Gericht am 89. Verhandlungstag die Beweisaufnahme schließen wollen. Vorangegangen war indes ein rechtlicher Hinweis der Kammer, wonach diese die Verurteilung zweier Angeklagter auch wegen einer Beteiligung am Überfall auf eine Gruppe Nazis am Bahnhof Wurzen im Februar 2020 »in Betracht zieht«. Deren Verteidiger stellten neue Beweisanträge. Einer von ihnen beinhaltet eine Vernehmung eines Vertreters des Bundesamtes für Verfassungsschutz, eventuell sogar von dessen Präsidenten Thomas Haldenwang. »Dem werden wir nachkommen müssen«, sagte Schlüter-Staats. Nur wenn die Zeugenaussage schon nächsten Mittwoch erfolge, sei »noch nicht alles verloren«, sagte er mit Blick auf das erhoffte Urteil vor Ostern.

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