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Ostukraine: Neun Jahre Krieg
Olga Schewtschuk sucht schon seit 2014 Schutz vor den Kämpfen in der Ostukraine. Jetzt ist sie in Deutschland und blickt zurück
Eine Frau posiert in der Fußgängerzone einer deutschen Kleinstadt. Sie trägt einen langen weißen Mantel, eine helle Mütze auf dem Kopf. Sie lächelt in die Kamera. Ein Bild, das perfekt in jeden Whatsapp-Status passt, doch trotzdem ist es etwas Besonderes. Es ist der Status von Olga Schewtschuk. Seit über acht Jahren flieht sie vor Krieg. Jetzt lebt sie in Lutherstadt Wittenberg und sagt: »So ruhig wie jetzt bin ich sehr lange nicht mehr gewesen.«
Olga Schewtschuk kommt aus Donezk, aus der östlichen Ukraine. Bis ins Jahr 2014 galt Donezk als die fünftgrößte Stadt der Ukraine, 2012 gewann Spanien dort im Elfmeterschießen gegen Portugal das Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft. Dort am Stadion ist sie gerne zu Fuß unterwegs gewesen, mit ihrem Mann hat sie gerne etwas unternommen: »Wir waren gerne tanzen, und wir hatten die Zeit dazu.« Seit 2014 geht das aber in Donezk nicht mehr, seit Separatist*innen die Volksrepublik Donezk ausriefen und die ukrainische Armee gegen sie kämpft. »Wir dachten, die ukrainische Armee schafft das«, sagt sie am Telefon. »Wir hätten nie geglaubt, dass der Krieg so lange dauern wird.«
Sie wundert sich darüber, dass in Deutschland offenbar erst jetzt, also seit einem Jahr, so ausführlich über den Krieg in der Ukraine berichtet wird – obwohl die Kämpfe im Osten des Landes schon seit mehr als acht Jahren anhalten. »Manche Deutsche sprechen Russisch. Viele wissen vom Maidan, von der Revolution, sie kennen Klitschko. Aber sie erzählen mir, nichts davon gewusst zu haben, dass der Krieg schon neun Jahre in der Ostukraine wütet«, erzählt sie schockiert und traurig. Deshalb möchte sie von dem Krieg und der Flucht berichten, die Tausende Ukrainer*innen erleben. Ihren richtigen Namen will die Familie lieber nicht in der Zeitung lesen.
Olga Schewtschuk wurde 1984 in der Kleinstadt Rodynske, etwa 80 Kilometer von Donezk entfernt, geboren. Als junge Frau ging sie in die Großstadt Donezk, um Psychologie zu studieren. Dort lernte sie ihren Mann kennen, 2008 bekamen sie ihren Sohn Igor. »Wir haben gearbeitet. Wir waren im Urlaub, konnten zu dritt ans Meer fahren. Manchmal kümmerten sich unsere Eltern um Igor, sodass mein Mann und ich zu zweit Zeit verbringen konnten«, erzählt sie. »Uns ging es gut.« Während sie telefoniert, läuft sie durch Lutherstadt Wittenberg, wo sie jetzt lebt, und kauft ein. Einmal unterbricht sie das Gespräch, legt auf. Sie muss bezahlen. Dann ruft sie zurück und erzählt weiter: »Mein Sohn ging schon in den Kindergarten, als er plötzlich aufhörte zu sprechen.« Die Mutter hörte auf zu arbeiten und fuhr mit Igor zu allen möglichen Ärzt*innen, bis in die Hauptstadt Kiew. Bei Igor wurde Autismus diagnostiziert. Seitdem kümmert sich die Mutter in Vollzeit um ihn.
Einige Jahre später, im Frühling 2014, kam dann plötzlich der Krieg: Separatist*innen riefen im April die »Volksrepublik Donezk« aus, wenig später folgte Luhansk dem Beispiel, sie wollten russisch werden. International erkannte diese Republiken niemand an. Das ukrainische Militär schritt ein, es kam zu Kämpfen. Für Olga Schewtschuk kam der Krieg unerwartet. An eine Situation zu Beginn erinnert sie sich noch besonders gut: »Der Hauptbahnhof wurde bombardiert. Wir wohnten ganz in der Nähe, durch die Druckwelle fielen die Vögel tot auf unsere Fensterbänke. Mein Sohn und ich mussten uns auf den Boden legen. Ich rief meinen Ehemann an, er arbeitete im Nachbarort. Ich nahm den Notfallkoffer mit unseren Pässen und rannte mit meinem Sohn zum Bus.« Einige Tage zuvor – genau kann sie sich nicht mehr erinnern – hatten sie diesen Koffer gepackt, nachdem die Regierung im Fernsehen vor weiteren Gefechten gewarnt hatte. »Vorher waren die Kämpfe nur vor der Stadt, aber dann wurde auch innerhalb der Stadtgrenzen geschossen und bombardiert. Zuerst am Stadtrand, wo wir wohnten«, sagt sie. Deswegen fuhren Olga Schewtschuk und ihr Sohn mit dem Bus ins Zentrum zu ihrem Schwiegervater, dort war es noch ruhig, doch: »Überall hörten wir Explosionen.«
Die Familie beschloss, in Olga Schewtschuks Heimatort zu gehen, nach Rodynske. »Dort lebten damals noch mein Großvater und mein Bruder.« Sie hofften auf einen ruhigen Sommer, Rodynske war auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Doch dort gab es kein fließendes Wasser, und Igor bekam eine Hautkrankheit. Täglich sollte er gebadet werden, riet ihr ein Arzt. Die Familie beschloss also, nach Donezk zurückzukehren, obwohl dort weiterhin geschossen wurde – aber immerhin gab es dort fließendes Wasser. Sie hoffte auf ein schnelles Ende des Krieges. Aber nur wenige Wochen nach der beschlossenen Waffenruhe im September 2014 kämpften prorussische Separatist*innen und das ukrainische Militär wieder gegeneinander.
Die Familie beschloss knapp ein Jahr nach Beginn der Kämpfe, nach Russland zu gehen. »Wir haben damals Russland nicht als Aggressor wahrgenommen, dort leben meine Cousine und einige andere meiner Verwandten«, erklärt Olga Schewtschuk diesen Schritt. »Sie nahmen uns sehr herzlich auf.« Es gab Bekannte, die flohen Richtung Westen in die Ukraine, andere dagegen genau wie sie nach Russland. »Es kam darauf an, wo man Verwandte und Bekannte hatte, die meisten haben das auch verstanden. In Donezk konnten wir nicht bleiben«, erklärt sie weiter. Am Telefon spricht Olga Schewtschuk Russisch. Sie sagt, die meisten in der Donezker Region sprächen Russisch. Sie selbst hat Russisch und Ukrainisch als Muttersprachen gelernt. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion im Jahr 1991 nennt sie Ukrainisch ihre Sprache. In Russland lebte die Familie bei ihrer Cousine, im Großraum Rostow am Don, nicht weit von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt. Sie blieb ein halbes Jahr. Ihr Mann versuchte, Arbeit zu finden. Am Ende stellte sich aber heraus, dass er keine Arbeitserlaubnis erhalten würde. Er konnte dort kein Geld verdienen. Also kehrte die Familie in die Ukraine zurück. Rückblickend sagt Olga Schewtschuk dazu: »Hätte mein Mann Arbeit gefunden, wären wir vielleicht geblieben.«
In den nächsten drei Jahren wechselte die Familie ständig den Aufenthaltsort zwischen Donezk und Rodynske. In der Zeit hoffte sie, dass sich die Situation beruhigen und der Krieg bald aufhören würde. Erst im Jahr 2018 benannte die ukrainische Regierung Russland als Besatzungsmacht der Regionen um Donezk und Luhansk, die völkerrechtlich zur Ukraine gehören. Im Mai 2019 wurde dann Wolodymyr Selenskyj ukrainischer Präsident. Olga Schewtschuk ging damals nicht zur Wahl, aber sie glaubte ihm: »Er hatte versprochen, neue Friedensverhandlungen zu führen. Ich hatte gehofft, wieder in mein altes Donezk zurückkehren zu können.« Doch es kam anders. Separatist*innen begannen damit, in den kontrollierten Gebieten russische Pässe an Ukrainer*innen auszustellen. Olga Schewtschuk selbst ist kein politischer Mensch. Politik mache sie eher traurig, sagt sie. Für die nächsten zwei Jahre war es in der Region zwar insgesamt ruhiger. Doch sie sagt: »Donezk war okkupiert.«
Sie und ihre Familie blieben trotzdem in der Ukraine. Im selben Jahr, in dem Selenskyj Präsident wurde, starb Olgas Großvater in Rodynske. Sie und ihre Familie übernahmen seine Wohnung und wollten dauerhaft bleiben. Olga Schewtschuks Mann arbeitete im Bergbau, ihr Bruder lebte auch noch in der Gegend. Außerdem bekam die Familie Geld von der Regierung für ihren Sohn. Die Jahre 2019 bis 2021 beschreibt die Mutter als entspanntes Leben: »Wir haben die Wohnung eingerichtet, neue Möbel gekauft, eine Waschmaschine und einen neuen Kühlschrank. Wir wollten auch renovieren.« Auf die Frage nach Bildern aus der Zeit sagt sie: »Ich habe leider keine Fotos mehr. Mein ganzes Leben ist dort geblieben.« Dort ist immer noch Donezk, dort ist die Ostukraine.
Im Februar 2022 griff Russland die gesamte Ukraine an. Familie Schewtschuk floh in den Westen des Landes, in die Region Winnyzja. »Wir lebten zwei Wochen bei Freunden und wollten abwarten, ob sich der Krieg schnell beruhigt«, erzählt sie mit auffallend ruhiger Stimme. Dafür, dass sie seit neun Jahren flieht und sich in all dieser Zeit um ihren autistischen Sohn kümmert, wirkt die Ukrainerin sehr gelassen. Sie erklärt sich das selbst so: »Ich glaube, ich bin in den letzten Jahren stärker geworden. Ich lebe jetzt schon lange mit diesem Krieg.« Sie habe Vertrauen, dass ihr immer jemand helfen werde. Und sie sei den Menschen sehr dankbar, die ihr und ihrer Familie die ganze Zeit schon geholfen hätten, vor allem auf der Flucht nach Deutschland.
»Ein Freund von uns wohnt in Berlin. Er hat gesagt, in Deutschland könne man Igor helfen«, erinnert sie sich an das letzte Jahr. Sie redet weiter am Telefon, durch den Hörer knackt der Schlüssel im Schloss. Sie ist mittlerweile wieder zu Hause angekommen, in einer Wohnung in Lutherstadt Wittenberg. »Also versuchten wir ab März nach Deutschland zu kommen.« »Das war erst im April!«, unterbricht sie ihr Ehemann aus dem Hintergrund. »Stimmt, erst am 9. Mai waren wir in Berlin«, ergänzt Olga Schewtschuk. »Ich wollte einfach nicht mehr auf dem Boden schlafen, mich verstecken müssen. Ich wollte nicht, dass mein Kind weiterhin Explosionen hören muss. Die Flucht mit einem autistischen Kind ist nicht einfach. Ich musste Igor immer an der Hand halten, damit er nicht wegrennt.« Von Winnyzja aus fuhr die kleine Familie mit dem Zug nach Lwiw: »Und von dort halfen uns Ehrenamtliche, nach Berlin zu kommen. Sehr liebe Menschen, mit ihnen sind wir immer noch in Kontakt.« In Berlin blieb die Familie dann zwei Wochen. Doch um schneller registriert werden zu können, zog sie schließlich nach Lutherstadt Wittenberg. Die Aufnahme verlief zügig. Die Familie erhält Geld vom Jobcenter.
Fast fünf Monate lebten sie in einer Unterkunft für Geflüchtete, bevor sie eine Wohnung fanden, die zu ihren Bedürfnissen passt. Sie wohnen jetzt allein im Erdgeschoss, damit es ungefährlich für Igor ist. »Seit 2014 habe ich meinem Sohn viele Medikamente gegeben, um ihn zu beruhigen«, erzählt sie. Jetzt gehe es Igor besser. »Er ist ruhiger, wir gehen viel spazieren und haben die Medikamente abgesetzt.« Der Junge kann in Lutherstadt Wittenberg für eine halbe Stunde täglich in die Schule gehen. Dort wissen die Betreuenden, wie man mit autistischen Kindern umgeht. »Igor versteht, dass wir woanders sind. Er versteht, dass neue Kinder in der Schule sind, aber sonst versteht er nicht viel«, sagt sie über ihren Sohn.
Jetzt ist es ruhig um sie geworden. Die Familie kann sich erholen. Olga Schewtschuk kann zum ersten Mal ihre Geschichte verarbeiten: »Meistens möchte ich mich nicht erinnern, doch jetzt fällt es mir leichter, die Geschichte zu erzählen.« Sie taue langsam auf, meint sie. Hier sei alles ruhiger, sie hätten ein eigenes Leben. »Wir lernen Deutsch«, sagt sie und lacht ein wenig. Es sei eine schwere Sprache, aber sie helfe, nach vorne zu blicken. Die Schewtschuks wollen in Deutschland bleiben. Olgas Bruder lebt mittlerweile in Polen. In Donezk ist noch die Familie ihres Ehemanns geblieben: »Die schrecklichen Nachrichten, die Bilder bekommen wir als erstes von unseren nächsten Verwandten und Freunden«, sagt sie und ergänzt: »Ich will die Zerstörung eigentlich nicht sehen.«
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