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Varwick: Diesen Krieg beenden wir nicht mit Waffenlieferungen

Der Politologe Johannes Varwick erläutert Gründe für den Ukraine-Krieg und nennt Voraussetzungen für seine Beendigung

  • Interview: Paul Gäbler
  • Lesedauer: 8 Min.

Ein Jahr ist es her, dass Wladimir Putin die Ukraine überfallen hat. Können Sie sich noch erinnern, was Ihr erster Gedanke war, als Sie von dieser Nachricht gehört haben?

Das war ein ziemlicher Schock. Ich hatte ein paar Monate vor dem Krieg mit einigen Kolleginnen und Kollegen einen Aufruf gestartet, in dem wir für eine Entschärfung der Situation plädiert haben, weil absehbar zwei Züge aufeinander rollten. In dieser Situation habe ich den russischen Aufmarsch für ein politisches Druckmittel gehalten, um mit dem Westen eine neue Sicherheitsarchitektur zu verhandeln. Dass diese Drohkulisse bitter ernst gemeint war, habe ich nicht richtig eingeschätzt. Mir war nicht klar, mit welcher Entschlossenheit Russland diesen Angriffskrieg vom Zaun brechen würde. Diese Brutalität war nicht absehbar, genauso wenig, dass Russland so massiv gegen seine eigenen Interessen handelt. Insofern lag ich daneben – so wie nahezu alle anderen aber auch.

Interview

Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick ist seit 2013 Lehrstuhlinhaber für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Von 2019 bis 2021 war er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik. Er forscht zu den Themenbereichen der internationalen Organisationen. Im Gespräch mit dem »nd« analysiert er die Ausgangslage für den Ukraine-Krieg und nennt Voraussetzungen, die zu einer Beendigung des Krieges führen können.

Welche Züge sind denn aus Ihrer Sicht aufeinander gerollt?

Wir wussten, dass Russland unzufrieden ist mit dem Zustand der europäischen Sicherheitsarchitektur. Russland war nie ein Freund der Nato-Osterweiterung. 2021 nahm der Zug der Ukraine in Richtung Nato-Mitgliedschaft an Fahrt auf, auch beeinflusst durch die neue Biden-Administration. Es gab im Sommer 2021 einen amerikanisch-ukrainischen Gipfel im Weißen Haus dazu. Russland war dagegen und wollte gewissermaßen die gesamte Nato-Osterweiterung rückabwickeln. Das war wiederum inakzeptabel für den Westen; allerdings war man nicht mal bereit, darüber zu verhandeln. Das war der Zeitpunkt, an dem die Dinge aus den Fugen gerieten. Um also die Fragen nach den beiden Zügen zu beantworten: Ein skrupelloser russischer Imperialismus, das war der eine Zug. Und ein Westen, der nicht bereit und in der Lage war, mit diesem Russland so umzugehen, dass man zu einer diplomatischen Lösung kommt, der andere.

Inwieweit die Nato-Osterweiterung für Putin eine Rolle spielt, ist unter Osteuropa-Expert*innen umstritten. Viele sagen, diese Erzählung diene lediglich als Feigenblatt für den ideologischen Krieg Russlands gegen den Westen.

Völlig richtig. Die beiden Sichtweisen sind, dass erstens nach russischem Drehbuch die Staatlichkeit der Ukraine vernichtet werden sollte als Ausgangspunkt für eine neue Landkarte Europas, inklusive Rückkehr des Baltikums in die ehemalige Sowjetunion. Mit diesem Russland konnte es gewissermaßen nur Krieg geben und jede Verhandlung, jeder Interessenausgleich wäre vergebens. Diese Sichtweise vertritt die Mehrheit der Osteuropaforscher. Die andere Sichtweise – und die halte ich für genauso legitim – ist, dass wir zweitens den Versuch hätten machen müssen, mit diesem unangenehmen Russland über einen Interessenausgleich zu reden. Wenn es Russland mithin nicht in erster Linie darum ging, die Ukraine dem russischen Imperium einzuverleiben, sondern darum, kein feindliches Militärbündnis wie die Nato an seiner Grenze stehen zu haben, dann wäre ein Interessenausgleich möglich gewesen. Aber der Westen hat die ukrainische Strategie voll übernommen und wollte sie ins westliche Bündnis ziehen. Wir wussten, dass das fast eine Kriegserklärung an Russland ist. Das haben wir nicht verstanden oder besser gesagt: Wir wollten es nicht verstehen.

Die Angst in Osteuropa vor russischer Intervention hat eine lange und blutige Geschichte. Halten Sie es für möglich, dass der Ukraine bei einem Nato-Beitritt das ganze Elend aktuell erspart geblieben wäre?

Das wäre die amerikanische Strategie gewesen. Die hat dazu geführt, dass 2008 auf dem Gipfel in Bukarest der Nato-Beschluss gefällt wurde, die Ukraine und im Übrigen auch Georgien in die Nato aufzunehmen, ohne allerdings ein Datum dafür zu nennen. Denn die Nato war in der Frage zerstritten. Die Deutschen und die Franzosen haben gebremst aus Sorge, Russland zu provozieren. Also haben wir uns für einen Mittelweg entschieden mit dem Versprechen an die Ukraine, irgendwann mal beizutreten. Diese Strategie hat nur Schlechtes bewirkt. Der bessere Weg wäre gewesen: eine neutrale Ukraine, die nicht eindeutig zum Westen und auch nicht eindeutig zum Osten gehört. Stattdessen haben wir versucht, eine geopolitische Grauzone zu kreieren, was völlig in die Hose gegangen ist. Man hätte dann sagen müssen: Okay, wir nehmen euch schnell auf und ihr genießt auch den Schutz des Beistands. Dann wäre wahrscheinlich dieser Krieg so nicht passiert.

Als ehemaliger Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik haben Sie sich immer wieder für höhere Verteidigungsausgaben stark gemacht. Wieso lehnen Sie nun Waffenlieferungen an die Ukraine ab?

Meine Position war nie eine pazifistische. Ich war immer der Auffassung, dass Deutschland mehr Verantwortung in der Sicherheitspolitik übernehmen muss. Ich habe auch nie daran geglaubt, dass man Frieden ohne Waffen schaffen kann. Allerdings glaube ich nicht, dass wir diesen Krieg mit mehr Waffenlieferungen beenden, sondern mit politischen Verhandlungen. Die Entwicklung, dass jetzt alle die Verteidigungshaushalte massiv erhöhen, sehe ich mit Skepsis und führt aus meiner Sicht zu einem Sicherheitsdilemma. Das bedeutet, dass die Stärke des einen immer als Bedrohung des anderen verstanden wird. Es ist ja nicht so, dass die Bundeswehr komplett blank wäre. Wir geben jedes Jahr ungefähr 50 Milliarden Euro für Rüstung aus, wir haben fast 200 000 Soldatinnen und Soldaten und stellen die zweitstärkste Armee Europas. Wenn wir jetzt noch mehr für Rüstung ausgeben, dann ist das ein Stück weit verständlich. Das Ziel muss aber sein, möglichst wenig für Militär auszugeben.

Die russische Staatspropaganda bezeichnet die Entstehung der Ukraine als »Fehler in der Geschichte«. Es gibt deutliche Hinweise auf ethnische Säuberungen in Butscha, wo die Elite des Landes vernichtet werden sollte. Wie soll man mit diesem Russland verhandeln, ohne sich und die Ukraine aufzugeben?

Wir müssten die Debatte eigentlich umdrehen. Wer sagt denn, dass mit mehr Waffenlieferungen eine Stabilisierung der Lage erreicht werden kann? Wir müssen jetzt Kompromisslinien ausloten. Die wären einmal ein Einfrieren der Situation in der Ostukraine und zum anderen ein neutraler Status des Landes, um den Krieg nicht zu eskalieren oder einen dauerhaften Abnutzungskrieg zu befeuern. Ich glaube nicht, dass es ein erreichbares politisches Ziel ist, den letzten russischen Soldaten aus der Ukraine zu verjagen, auch wenn das völkerrechtlich und moralisch richtig wäre. Aber es ist aktuell politisch nicht erreichbar oder zumindest nicht zu einem vertretbaren Preis. Natürlich müssen wir an der Seite der Ukraine stehen, sie muss Sicherheitsgarantien bekommen, wenn sie sich auf einen solchen Deal einlassen würde. Wir werden nicht umhin kommen, uns von unserer Ideallösung zu verabschieden. Stattdessen werden wir einen schmutzigen Deal akzeptieren müssen, der ein Einfrieren bedeutet. Das muss man auch der Ukraine vermitteln, zumal sie vollkommen abhängig ist von westlicher Unterstützung. Wir werden also früher oder später an einen Punkt kommen, wo wir verhandeln müssen. Ich wäre sehr für früher.

Der Historiker Christopher Clark schrieb, der Erste Weltkrieg habe das letzte Jahrhundert »vergiftet«. Droht uns das nun auch für das aktuelle?

Historische Vergleiche sind immer schwierig. Aber kann es Situationen geben, bei denen man in einen Krieg gerät, obwohl man es eigentlich gar nicht wollte? Hat man genug getan, um sich dagegen zu stemmen? Schließlich besteht die Gefahr, dass eine Krise die nächste jagt und der Klimawandel, der als große Katastrophe über allem schwebt, aus dem Blick zu geraten droht. Dieser Krieg vernebelt die wahren Probleme und hat das Potential, mindestens das Jahrzehnt zu versauen. Außerdem sollten wir darüber nachdenken, wie Russland eines Tages die Rückkehr in die Völkerfamilie ermöglicht werden kann. Wenn man sich anschaut, dass mit dem Frieden von Versailles der Keim für einen nächsten Krieg gelegt wurde, dann sollten wir über eine Friedenslösung nachdenken, in der sich Russland ebenfalls wiederfindet. Das setzt natürlich grundlegende Veränderungen in der russischen Politik voraus.

Wie würden diese aussehen?

Ich glaube nicht daran, dass Putin gestürzt wird und danach ein liberaler Präsident den Krieg beendet. Wir müssen mit Russland umgehen, wie es ist, und haben keinen bis wenig Einfluss darauf, welche Staatsführung Russland sich gibt. Das müssen wir so hinnehmen. Gedankenspiele über eine totale Niederlage Russlands halte ich für fahrlässig.

Der Debattenton ist in den letzten Monaten rauer geworden. Wie gehen Sie damit um?

Ich erlebe viel Häme und auch Hass und kann nicht genau sagen, wo diese denn herkommt. Mich bekümmert, dass die Parteien der Mitte, also Grüne, FDP, SPD und CDU/CSU in dieser Frage so simpel diskutieren und die etwas skeptischere Position den Rändern, also AfD und Linke, überlassen wird. Der Historiker Wolfgang Kruse hat die aktuelle Stimmung neulich eine »akademische Kriegsbegeisterung« genannt, die ihn befremdet. Ich teile das.

Müssen wir also davon ausgehen, dass die Lage weiter eskaliert?

Ich habe kürzlich ein Zitat aus der »Neuen Zürcher Zeitung« von 1914 gefunden. Da schrieb Hermann Hesse »Oh Freunde, nicht diese Töne« und beklagte sich über die zunehmende Kriegsstimmung. In die dürfen wir nicht verfallen. Es ist nicht so, dass wir nicht verteidigungsfähig wären. Die Nato ist dazu da, die russischen Expansionsgelüste einzudämmen, und ich halte es für kein realistisches Szenario, dass Russland sich mit ihr anlegt. Aber für diejenigen Staaten, die nicht in der Nato sind, also Ukraine, Georgien, Moldawien und Belarus, gelten andere Spielregeln. Politik sollte immer die Hoheit über den Diskurs beanspruchen. Deswegen auch mein Insistieren auf Verhandlungen. Das ist die Alternative zu einer Eskalation.

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