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Reichenbacher Streicheleinheiten
Der Linke-Politiker Henry Ruß aus dem Vogtland trotzt bei der OB-Wahl der Krise seiner Partei
Der Wahlspruch ist kurz, knackig und war zumindest im ersten Anlauf auch erfolgreich. »Der von hier« steht auf Plakaten, mit denen der Linke-Politiker Henry Ruß für sich als neuen Oberbürgermeister von Reichenbach wirbt. Das überzeugte im ersten Wahldurchgang vor gut zwei Wochen 43,5 Prozent der Wähler in der früheren Kreisstadt im Vogtland. Mit CDU-Mann Raphael Kürzinger ließ er den Amtsinhaber hinter sich und geht als Favorit in die Entscheidung am Sonntag.
Ruß war selbst überrascht. Er habe auf 35 Prozent der Stimmen gehofft. »Das wäre schon viel gewesen für einen Linken in dieser schwarzen Gegend«, sagt er. Die Marke wurde übertroffen, gewonnen ist die Wahl aber noch nicht. Zwar müsste Kürzinger einen Rückstand von 6,7 Punkten aufholen, was umso schwerer wird, weil auch ein bei knapp 20 Prozent gelandeter dritter Kandidat wieder antritt. Die erfolgsverwöhnte CDU aber zeigt Zähne. Sie warnt davor, ein linker Rathauschef hätte einen schlechteren Draht zu Landrat und Ministerpräsident (beide CDU) und würde die Stadt in ein »politisches und wirtschaftliches Vakuum« führen. Ruß bleibt aber gelassen: »Ich hätte nicht verloren, selbst wenn es am Ende nicht reicht.«
Das trifft umso mehr zu, als er keinerlei Rückenwind von seiner Partei erhielt. Die Linke wird von Spekulationen über eine Spaltung erschüttert, wirkt in der Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine zerrissen und klebt folglich nicht nur bundesweit an der Fünf-Prozent-Marke, sondern wird auch in Sachsen nur noch bei sechs Prozent gehandelt. Kein Wunder, dass der unerwartete Erfolg bei der Rathauswahl im Vogtland als Streicheleinheit für die wunde Parteiseele empfunden wurde. Die Landeschefs Susanne Schaper und Stefan Hartmann bejubelten das »ausgezeichnete Ergebnis«. Und sogar Dietmar Bartsch, Fraktionschef im Bundestag, übermittelte auf Twitter Glückwünsche.
Ruß’ Erfolg ist für Die Linke nicht der einzige Lichtblick auf kommunaler Ebene. In Thüringen gewann Matthias Marquardt kürzlich die Bürgermeisterwahl in Heringen im Kreis Nordhausen. In Sachsen-Anhalt lag Christina Buchheim in der ersten Wahlrunde in Köthen vor Amtsinhaber Bernd Hauschild, mit dem sie am 3. April in die Stichwahl geht. Eva von Angern, Fraktionschefin im Landtag, pries sie anschließend als »glaubwürdige, nahbare und authentische Kandidatin«.
Derlei Attribute treffen auch auf Ruß zu, der seinen Erfolg einer jahrelangen kommunalpolitischen Verankerung und klaren Positionen verdankt. Der studierte Historiker, der nach Ende der DDR die FDJ in Reichenbach abwickelte, dann eine Zeitarbeitsfirma gründete und bis heute in der Branche tätig ist, sitzt seit 25 Jahren im Stadtrat und führt dort die Fraktion. Zuvor hatte er jahrelang Reden zur Jugendweihe gehalten, im Jeanshemd und mit lockeren Sprüchen. Von der damit errungenen Bekanntheit zehrt er bis heute. »Die Leute kennen mich seit einem Vierteljahrhundert«, sagt Ruß. »Ich muss ihnen keine bunten Kühe oder Freibier versprechen, um sie für mich einzunehmen.«
Honoriert wird wohl auch sein Einsatz für das Krankenhaus im Ort, das dessen privater Betreiber nach einer Insolvenz zum Monatsende schließt. Die Linke kämpft seit Langem für eine Rekommunalisierung, scheiterte im Kreistag, dem Ruß ebenfalls angehört, aber an der konservativen Mehrheit. Rathauschef Kürzinger legte erst im Dezember ein Konzept vor, das dem Vernehmen nach aber als unzulänglich gilt. Generell scheint es einige Unzufriedenheit mit dem OB zu geben, der vor sieben Jahren ins Amt kam. Gewerbeverein und FDP sehen einen »Wechselwillen« in der Stadt, von dem Ruß wohl profitierte.
Inwieweit auch große Politik eine Rolle spielte, ist offen. Die Landeschefs sind überzeugt, dass Ruß’ »klare Haltung gegen Krieg und Waffenlieferungen mit Sicherheit nicht geschadet« habe. Letztere lehnt Ruß ab und drängt auf Verhandlungen. »Jeder Tag, den der Krieg länger andauert, ist schlimm«, sagt er und macht keinen Hehl daraus, dass er dem Westen und der Nato eine Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine gibt, weil sie Russlands Interessen ungenügend berücksichtigt hätten. »Ich stimme in vielen Punkten mit Sahra Wagenknecht überein«, sagt er. Den Aufruf zu der von ihr organisierten Demonstration in Berlin am 25. Februar habe er auf Facebook geteilt.
Die nicht zuletzt seit dieser Veranstaltung erfolgte Zuspitzung der Konflikte innerhalb der Partei trüben Ruß’ Freude über den Wahlerfolg. Die Debatte über eine drohende Spaltung verfolgt er mit Sorge: »Ich wüsste nicht, wohin ich mich bei einer Abspaltung orientieren sollte.« Er sähe sich seiner »politischen Heimat beraubt«. Alternativen gibt es nicht.
Wegen seiner umweltpolitischen Positionen gilt er als »grüner Roter«. Die Grünen seien aber mittlerweile eine Partei von »Kriegstreibern« und keine Alternative. Als Historiker mit Blick auf große Linien versucht er gelassen zu bleiben: »Vielleicht sieht die Geschichte ja vor, dass etwas Neues entsteht.« Als Kommunalpolitiker sieht er Die Linke vor den Wahlen zum Kreis- und zum sächsischen Landtag 2024 aber in einer »prekären Situation«. Verschwinde sie auf Bundesebene in der Bedeutungslosigkeit, »fängt das niemand auf«, sagt er, »auch keine Sahra-Wagenknecht-Partei«. Und auch dass sie mit ihm vielleicht bald einen weiteren Rathauschef stellt, ist da nur ein schwacher Trost.
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