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Russland: Rassismus-Experten vor Aus

Russland will das Analysezentrum Sowa auflösen

  • Varvara Kolotilova
  • Lesedauer: 3 Min.
Das russische Justizministerium will das Analysezentrum Sowa schließen. Warum, weiß Gründer und Leiter Alexander Werchowskij nicht.
Das russische Justizministerium will das Analysezentrum Sowa schließen. Warum, weiß Gründer und Leiter Alexander Werchowskij nicht.

Russlands Justizministerium hat vor Gericht die Auflösung des Moskauer Zentrums Sowa beantragt. Damit sind die Tage der seit über 20 Jahren existierenden Nichtregierungsorganisation zumindest in ihrer jetzigen Form gezählt. Ein Verhandlungstermin steht noch nicht fest. »Wenn wir in beiden Gerichtsinstanzen verlieren, was wahrscheinlich ist, wird unsere Organisation praktisch sofort aufgelöst«, sagt Alexander Werchowskij, Gründer und Direktor von Sowa (Eule), zu »nd«.

Auf die Frage, warum die Behörden ausgerechnet jetzt zu solch drastischen Mitteln greifen, hat er keine Antwort. Natürlich sei die allgemeine Lage im Land äußerst angespannt, aber ihm sei kein konkreter Anlass bekannt, der direkt auf Sowa verweise. Im vergangenen Herbst hatte die Bewegung »Veteranen Russlands« die Auflösung des Zentrums gefordert, was rückblickend in gewisser Weise als Startschuss gedeutet werden kann. Denn kurz darauf fand eine umfangreiche behördliche Prüfung des Zentrums statt – damit sehen sich allerdings viele Organisationen in Russland konfrontiert.

Behörden schätzten Analysen von Sowa

Tatsache ist, dass die Tätigkeit von Sowa so manchem ein Dorn im Auge sein dürfte. Das Zentrum dokumentiert rechte und rassistische Übergriffe; auch die Anwendung der ausufernden russischen Anti-Extremismus-Gesetzgebung wird von den Experten dokumentiert. In den regelmäßig veröffentlichten Berichten findet sich zahlreich fundierte Kritik an der unverhältnismäßigen Strafverfolgungspraxis, die 2023 nach den Prognosen von Sowa weiter zunehmen wird. Dabei konnte das Zentrum in früheren Jahren sogar auf staatliche Fördermittel zurückgreifen; Teile des Staatsapparates schätzten die systematisch erhobenen Angaben und Rechercheergebnisse als alternative Informationsquelle. Bis November vorigen Jahres gehörte Werchowskij sogar eine ganze Dekade lang dem präsidialen Menschenrechtsrat an.

Bereits 2016 wurde Sowa jedoch ins Register der »ausländischen Agenten« aufgenommen. Vor einigen Wochen hat die Organisation einen Prüfungsbescheid erhalten, aus dem die Forderung der Staatsanwaltschaft hervorgeht, dass in den Unterlagen des Zentrums gezielt nach Verstößen hinsichtlich der Teilnahme an Veranstaltungen ermittelt werden sollte. Als Ergebnis hielten die Prüfungsverantwortlichen 24 Veranstaltungen innerhalb von drei Jahren fest, an denen das Sowa-Team außerhalb von Moskau und auch im Ausland beteiligt war. Das Justizministerium stuft diesen Sachverhalt als unwiderruflichen Gesetzesverstoß ein.

Vorwürfe offenbar konstruiert

»Das ist ein völlig neues Schema«, so Werchowskij. Beim Zentrum Sowa handelt es sich nach der Moskauer Helsinki-Gruppe und dem in Joschkar-Ola beheimateten Verein Mensch und Gesetz um die dritte bekannte Organisation, die auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen werden soll. Die Vorwürfe – Arbeit außerhalb des Ortes, an dem die Organisationen registriert sind – lauten immer gleich.

Die russische Gesetzgebung unterscheidet zwischen regionalen, überregionalen und russlandweiten Vereinigungen. Sowa ist eine regionale Organisation wie der Großteil der in Russland registrierten Vereinigungen. Im Gesetz steht, dass eine regionale Organisation in ihrer eigenen Region tätig ist; nur überregionale und landesweite dürfen ihre Tätigkeit entsprechend auch in anderen Landesteilen ausüben. »Diese Norm gilt seit einem Vierteljahrhundert, und früher kam niemand auf die Idee, dass diese Vorgabe buchstäblich aufzufassen ist«, sagt Werchowskij. Denn wäre dies der Fall, könnte niemand an einem Seminar oder einer Besprechung in einer anderen Stadt teilnehmen. Dafür gründe man schließlich keine eigene Struktur, lautet sein Fazit.

»Das ist eine extrem praktische Methode«, so der Sowa-Gründer. Wenn niemand dieser neuen Tendenz Einhalt gebiete und das Beispiel Schule mache, könnte jeder lokale Staatsvertreter eine missliebige Organisation auf diese Weise aus der Welt schaffen, ohne stichhaltige Vorwürfe vorzubringen. »Deshalb hege ich die vage Hoffnung, dass irgendjemand auf der Führungsebene bemerkt, dass es sich hier um einen problematischen Präzedenzfall handelt.« Werchowskijs Worte klingen wie ein letzter Appell an die Vernunft.

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