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Warum die Deutschen ihre Wirtschaft lieben
Oliver Decker spricht im Interview über Autoritarismus, das »Versprechen« der Unterwerfung und warum Deutsche ihre Wirtschaft lieben
Herr Decker, ein jährlicher Demokratiereport der Universität in Gothenburg hat ergeben, dass drei Viertel der Weltbevölkerung mittlerweile unter autoritärer Herrschaft leben. Was sagt uns eine solche Diagnose?
Prof. Dr. Oliver Decker ist Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts (EFBI) und des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Zudem ist er Professor für Sozialpsychologie an der Sigmund-Freud-Universität Berlin. Seit 2002 leitet er mit Elmar Brähler die Leipziger Autoritarismus Studien (LAS).
Das hängt natürlich davon ab, was wir unter Autoritarismus verstehen. Dazu gibt es zwei Perspektiven: Die eine ist die, mit der die Kollegen an der Universität Gothenburg die Strukturen untersuchen, unter denen Menschen leben, wie demokratisch oder autoritär eine Gesellschaft verfasst ist. Sie sprechen dann von Autokratien. In unserer Forschung im Rahmen der Leipziger Autoritarismus Studien konzentrieren wir uns zunächst auf die Subjektseite, also das Individuum. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass Autoritätsverhältnisse immer durch ein hohes Maß an Freiwilligkeit geprägt sind. Dieses Phänomen hat etwa schon der deutsche Soziologe Max Weber untersucht, als er sich fragte, warum Herrschaft eine Chance hat, bei den Beherrschten auf Zustimmung zu stoßen – selbst, wenn diese darunter leiden. Weber untersuchte deshalb legitime Herrschaftsformen und keine Gewaltherrschaft.
Was meint also der Befund Autoritarismus?
Beim Autoritarismus geht es auf der einen Seite darum, dass Unterwerfung unter eine Autorität eingefordert wird. Um zu verstehen, wieso diese Autorität akzeptiert wird, können wir aber nicht ausschließlich auf die Entdemokratisierung gesellschaftlicher Institutionen oder den Rückgang an Beteiligungsmöglichkeiten schauen. Autoritäre Dynamiken in einer Gesellschaft sind nämlich andererseits auch durch die Bejahung dieser Herrschaft geprägt, die ambivalente Bindung an eine Autorität. Dabei kann die Autorität auch in weniger sichtbaren Formen auftreten. Wir denken oft an Personen, also an klassische Führerfiguren. Es kann aber auch eine Idee, ein Prinzip sein, das eine Gesellschaft beherrscht und autoritäre Dynamiken freisetzt.
Was sind das für Prinzipien? So etwas wie Leistungsorientierung?
Täglich erfahren wir, dass wir nicht in einer Leistungs-, sondern einer Erfolgsgesellschaft leben. Der Erfolg ist das, was honoriert wird und nicht die Leistung. Das macht das Leistungsprinzip vielleicht nicht zum besten Beispiel. Was wir mit Autoritarismus meinen betrifft das, was hinter der Ideologie der Leistung steht, die warenproduzierende Gesellschaft im Ganzen. Der Markt verlangt Unterwerfung unter seine Gesetze und stellt gleichzeitig eine Entschädigung in Aussicht – paradoxerweise im Übrigen auch das Versprechen auf Versöhnung: Ein gerechter Tausch sei möglich, obwohl er in der Realität auf einem Betrug basiert. Wenn wir die Marktregeln akzeptieren, dann können wir an seiner Macht und seinen Möglichkeiten teilhaben. Das führt zu einer freiwilligen Unterwerfung, die nicht wenig der gesellschaftlichen Stabilität ausmacht – aber auch die autoritären Ressentiments hervorbringt.
Autoritarismus besteht dann heute also in der Unterwerfung unter ein Wirtschaftssystem?
Die Grundidee der Autoritarismus-Forschung entspringt zwei Fragen: Was legitimiert eigentlich Herrschaft und welche Rolle spielen dabei Gruppen beziehungsweise Massen? Und die Antwort ist: Es gibt die Sehnsucht nach einer Autorität und die Identifikation vieler mit ihr bringt eine Masse hervor. Im Grunde ist der Führer ein Produkt der Interaktion mit seinem Publikum, ihre Wünsche erzeugen ihn mit. Unsere Forschung wählt den Zugang über das Bedürfnis nach einer Autorität, nach einer Art narzisstischen Himmelfahrt mit der gemeinsamen Fiktion von Macht und Größe, um zu verstehen, wie und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen das Bedürfnis zustande kommt. Eine solche Identifikation kann auch mit etwas Abstraktem gelingen, wie einem gemeinsamen Ideal. Das ist viel weiter verbreitet, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Hierzulande lässt sich dieser Zusammenhang besonders gut beobachten – Deutschland ist im Grunde der sozialwissenschaftliche Idealfall. Die Identifikation mit dem Führer in Nazideutschland fand im postnationalsozialistischen Deutschland ihren Ersatz in der Identifikation mit wirtschaftlicher Stärke und beständigem Wirtschaftswachstum.
Eine solche Ersatzautorität haben Sie als narzisstische Plombe beschrieben. Was meinen Sie damit?
In den 1960er Jahren führten Margarete und Alexander Mitscherlich die deutsche Psychodynamik auf eine »Unfähigkeit zu Trauern« zurück. Der Verlust des Größenselbst, der narzisstischen Selbstaufladung im Nationalsozialismus, wurde so wenig anerkannt, wie die Schuld und Scham in Folge der Shoah. Es fand sich stattdessen ein Ersatz, um das Größenselbst wieder aufzurichten. Im postnationalsozialistischen Deutschland bot sich durch den Wirtschaftsaufschwung ein anderes Selbstobjekt an, nämlich die expandierende Wirtschaft.
Das sogenannte Wirtschaftswunder…
Genau, aber dieser Begriff ist keinesfalls eine Prägung aus den 1950er Jahren, sondern ein »Wirtschaftswunder« fand bereits 1936 in Nazideutschland statt. So wurde die durch die Kriegsgüterproduktion expandierende Wirtschaft beschrieben. Davon kam zwar bei den einzelnen »deutschen Volksgenossen« nicht viel an, trotzdem wurde dieser Aufschwung als Teil der eigenen Leistung erlebt und der Erfolg wurde dem ideellen Selbstobjekt zugeschrieben, nämlich dem Führer und der NSDAP. Auch deshalb war es nach dem Krieg so leicht, einen Teil für das Ganze zu nehmen, das Wirtschaftswachstum für die verlorengegangene Herrenreiter-Ideologie. Der Bezug darauf gestattete, sich wieder vollständig und mächtig zu erleben und zu verleugnen, was die Deutschen getan haben. Für diesen Effekt wählten wir das Bild der narzisstischen Plombe. Eine Plombe ist etwas, womit ein Hohlraum gefüllt wird, er wird damit versiegelt. Diese Prothese erfüllt dann mehrere Funktionen: sie dichtet etwas ab, sie schafft eine Stabilität und hilft, Schmerz und Konfrontation mit der Unvollständigkeit zu vermeiden. Und das tut eine Autorität auch. Erich Fromm sprach in den 1930er Jahren bildhaft von der »Prothesensicherheit der Autorität«.
Damit liegt die These nahe, dass diese »Prothesen«-Funktion der Autorität umso stärker durchschlägt, je krisenhafter die Gesellschaft wahrgenommen wird.
Ja, mit Sicherheit. Aber was wird denn als krisenhaft wahrgenommen? Krisen bestehen nicht einfach objektiv. Lange Zeit etwa war der Klimawandel kein krisenhafter Verlauf, sondern wurde seit den Berichten des Club of Rome in den 1970er Jahren nur hin und wieder thematisiert. Es ist eine jüngere Entwicklung, diese Bedrohung als Krise wahrzunehmen. Die Pandemie etwa war eine Krise, definitiv. Entsprechend hat sie auch eine autoritäre Dynamik freigesetzt. Nicht nur auf Seiten derjenigen, die gegen die Maßnahmen mit Verschwörungsideologien protestierten. Selbst Menschen, die der Präventionspolitik zustimmten und sich als vernünftig begriffen, forderten dann harte Sanktionen gegen Maßnahmenverweigerung und ein Durchgreifen der Polizei.
Diese autoritären Dynamiken während der Pandemie waren auch Gegenstand der aktuellen Autoritarismus-Studie von 2022. Sie beschreiben darin eine »Objektverschiebung der antidemokratischen Einstellung«. Was ist damit gemeint?
In der Studie konnten wir einen Rückgang bestimmter manifester rechtsextremer Einstellungen beobachten – der Neo-NS-Ideologie, wie wir es bezeichnen. Hinzu kam, dass die Demokratiezufriedenheit gestiegen ist. Auf der anderen Seite stiegen Ausländerfeindlichkeit, Antifeminismus oder Sexismus jedoch an. Ebenso wie die politische Deprivation, sprich das Gefühl, keinen Einfluss auf diese Gesellschaft zu haben und sich nicht sinnvoll politisch engagieren zu können. Wir deuten das so, dass es während der Pandemie möglich war, das Autoritätsbedürfnis mit einer starken Exekutive innerhalb eines demokratisch verfassten Staates zu befriedigen. Im Grunde genommen sehen wir dann die klassische Ambivalenz einer freiwilligen Unterwerfung: der Wunsch nach autoritärer Identifikation und gleichzeitig der Effekt, dass man dafür auf vieles Eigene verzichten muss. Die Aggression aus der Enttäuschung richtete sich dann gegen diejenigen, die sich scheinbar nicht an die Regeln halten, die machen, was sie wollen, schwach sind, oder einfach nur abweichen. In der Pandemie konnte man diesen Zusammenhang beobachten und damit eine autoritäre Dynamik erkennen.
In der öffentlichen Wahrnehmung gab es großes Staunen über die enorme Radikalisierung, die »Spaltung der Gesellschaft«, die Zunahme an Verschwörungsdenken und Ähnlichem.
Wobei man festhalten muss, dass die Pandemie nicht den gleichen Effekt einer Zunahme an antidemokratischen Einstellungen hatte wie ökonomische Krisen in der Vergangenheit. Die autoritären Reaktionen sind bei ökonomischen Krisen am heftigsten. In Deutschland darf die idealisierte »starke Wirtschaft« nicht schwächeln. Wofür hat man sich ihr sonst unterworfen? Die Zunahme an Verschwörungsmentalität, Antisemitismus und Rechtsextremismus, die wir 2010 bis 2012 während der Finanz- und Wirtschaftskrise beobachten konnten, war deutlich höher als während der Pandemie. Die Ökonomie ist der Glutkern unserer Gesellschaft. Und das führt zu einem wichtigen Punkt: Alle Gesellschaftsmitglieder leben unter der autoritären Dynamik – das gilt auch für Linke. Selbst innerhalb der Linken zeigt sich mittlerweile eine starke Betonung von Konventionen und eine hohe Not zur Gruppenidentität. Das geht auf Kosten der Vielfalt und erhöht die Sanktionsbereitschaft gegen Abweichungen. Dies muss ebenfalls als Ausdruck von autoritären Dynamiken, unter denen wir alle leben, reflektiert werden.
Wenn Sie sagen, auch eine gesellschaftliche Linke sieht sich den autoritären Dynamiken ausgesetzt, wie zeigen sich diese?
Ich weiß, es ist ein neuralgischer Punkt, aber ich würde sagen, dass etwa bestimmte Formen der starren und teilweise auch zwanghaften Spracheingriffe in Bezug auf das »Gendern« unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden sollten. Es ist ja nicht so, als würde die Verwaltung der Sprache Gleichheit und Geschlechtergerechtigkeit verwirklichen. Stattdessen werden Konventionen und Regeln aufgestellt, die eine Reflexion der eigenen politökonomischen Position umgehen. Das richtige Sprechen und Schreiben sorgt damit unter der Hand auch für eine Rückversicherung der eigenen Position, der Identifikation mit Gruppennormen, die zum Teil auch Aggressionen legitimieren. Insofern sind die meisten Vorbehalte gegen eine geschlechtergerechte Sprache zwar polemisch und kommen vom politischen Gegner, deshalb sollte man aber auf die eigene Reflexion der politischen Praxis nicht verzichten. Zum Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre etwa haben John und Barbara Ehrenreich mit dem Begriff der Professional-Managerial Class versucht, die Formation einer neuen Klassenposition zu beschreiben. Damit gemeint war eine bestimmte akademische Mittelschicht, die ihre eigene Klassenposition darüber behauptet, dass sie die Organisierung des Gesamtgesellschaftlichen betreibt. Sie übernimmt Kontroll- und Anleitungsfunktionen, insofern die akademischen Intellektuellen den »Pöbel« auf die Einhaltung von bestimmten Regeln verpflichteten. Ich nehme das Anliegen sehr ernst, aber eine progressive Linke muss gerade deshalb ihren Blick schärfen, damit ihr emanzipativer Anspruch nicht in dieser Dynamik unterlaufen wird.
Die Aggressionen, die sich regelmäßig gegen das »Gendern« entladen, lassen sich aber kaum als gerechtfertigte Kritik an autoritären Tendenzen einer Linken begreifen. Vielmehr spricht daraus doch selbst die Projektion von Wut und Hass, die sich gegen diejenige Inklusion richten, die in der Sprache angestrebt wird.
Sicher, es wäre falsch, die rechten Aggressionen darauf zurückzuführen. Im Gegenteil sind diese Aggressionen auf Seite der extremen Rechten selbst Ausdruck der Ressentiments gegen scheinbare Abweichung und vor allem Emanzipationsbemühungen. Anders als für eine progressive Linke steht deren Ideologie der Ungleichwertigkeit nicht in Konflikt mit den autoritären Tendenzen der Gesellschaft. Trotzdem sollte eine Linke besser verstehen, was sie macht: etwa diese Sprachregelungen als – wenn ich es mal als Psychologe sage – Beziehungsgestaltung reflektieren. Es ist eine Form der Normbehauptung, der sich andere unterwerfen müssen, sonst gelten sie als antiemanzipativ, antidemokratisch und ziehen die Wut auf sich.
Dass auf Konventionen zurückgegriffen wird, verweist aber nicht automatisch auf autoritäre Dynamiken. Es macht einen Unterschied, ob man sich etwa auf die Autorität natürlicher oder gottgegebener Normen beruft oder aber gemeinsam ausgehandelte Regeln verteidigt. Konventionen haben ja auch eine gesellschaftlich notwendige Funktion.
Absolut. Aber Konventionen können eben für den Autoritarismus in den Dienst genommen werden, zur eigenen Aufwertung oder um ein Geländer zu bieten, etwas, das es gestattet, psychische Bedürfnisse zu befriedigen. Wir können nicht ausblenden, dass es unter den allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen – die autoritär sind – immer wieder droht und auch passiert, dass selbst emanzipatorische Anliegen zum autoritären Instrument werden. Wir müssen auch bedenken, dass Konventionen die Möglichkeit bieten, psychoanalytisch gesprochen, immer bestehende Ängste einzudämmen, indem man auf zuverlässige Strukturen zurückgreifen kann. In der Psychoanalyse wird von »Containment« gesprochen. Und die Gesellschaft macht hierfür viele Angebote. Selbst ein Bürgersteig hat in diesem Sinne eine psychische Funktion: Wir wissen, dass wir uns im Verkehr darauf sicher bewegen können, ohne in beständiger Habachtstellung zu sein. Umso traumatischer, wenn dann doch die Gewalt einbricht, ein Auto auf den Fußweg gerät. Wenn wir als Linke aufklärerisch und emanzipativ an den Ketten rütteln, dann verlieren die Menschen auch etwas. Wir sagen den Leuten, sie sollen auf bürgerliche Konventionen verzichten, denn dann sind sie freier. Grundsätzlich stimmt das zwar, aber wir vernachlässigen dabei, dass diese Konventionen und Rituale alltägliche Ängste und Unsicherheiten binden, die wir alle im Alltag haben. Dazu gehören auch Rollen und erst recht Geschlechterrollen. Es ist kein Zufall, dass während der Pandemie klassische Geschlechterrollen reaktiviert wurden – das zeigte sowohl unsere Studie wie auch die alltägliche Erfahrung. Was können wir stattdessen anbieten: Sind es neue Konventionen? Rechtfertigen diese auch Sanktionen und sichern Positionen in einer Konkurrenzgesellschaft? Wenn wir das nicht mitdenken, dann aktiviert das Angst- und Unsicherheitsreaktionen und mobilisiert Abwehr.
Das klingt nun so, als sei die autoritäre Dynamik eine feste gesellschaftliche Größe, mit der man zu rechnen hat, und als wäre es sozusagen möglich, einen Haushalt darüber zu führen, die Aggressionen geordnet abzuleiten oder zu verwalten…
In der bestehenden Gesellschaft gibt es solche Orte, wie zum Beispiel den Karneval.
Wenn also ab und zu der autoritäre Clown wie ein Donald Trump auftritt und die autoritären Bedürfnisse befriedigt, müssen wir dann keine Angst mehr vor dem Pogrom haben?
Im Gegenteil. Während der Karneval die kontrollierte Regelüberschreitung ist, die verpönten Wünsche eine Auszeit bekommen, werden sie von Trump und seiner Bewegung noch einmal erniedrigt, verschmäht, freigegeben für die Aggression des Mobs. Wir müssen realisieren, dass es etwas in unserer historisch gewachsenen Gesellschaftsformation gibt, das Destruktivität hervorbringt. Der Clown und das Lachen der Masse können zum Ausdruck dieser Destruktivität werden, sie kompensieren die Aggression nicht automatisch. In beiden Momenten – Karneval und faschistischer Mob – kommt zum Vorschein, was die ganze Zeit da ist. Und daran kann man auch sehen, dass die menschlichen Bedürfnisse einen Eigensinn haben. Diesem gibt die Verwaltung der Destruktivität keinen Raum. Verwaltung gibt dem Affen eher Zucker, denn die verwaltete Welt, in der das Individuum nicht zählt, in der es nur die Option hat, sich zu unterwerfen, bringt genau diese Destruktivität erst recht hervor.
Das klingt wenig optimistisch.
Ich bin pessimistisch, dass sich diese Situation in kurzer Zeit ändert. Die Gesellschaft ist eine lange gewachsene Struktur und es gibt ein durch unbewusste Identifikation generationell weitergegebenes Erbe, das wir mitschleppen. Wenn wir abends ins Bett gehen, dann liegen ganze Generationen von Vorfahren mit ihren Wünschen, Erwartungen, Beschädigungen und Erfahrungen neben uns. Andererseits gibt es auch Grund für Hoffnung, es sind ja durchaus auch Liberalisierungsprozesse zu beobachten. Die Auseinandersetzungen darum finden statt, es sind nur sehr dicke Bretter, die da gebohrt werden. Die Wissenschaft, aber auch soziale Bewegungen müssen diesen Prozess immer wieder aufnehmen und dabei auch die eigenen Widersprüche erkennen und daran arbeiten.
Welche Rolle spielt dafür die Analyse des Autoritarismus?
Unsere Autoritarismus-Forschung ist der Versuch, nicht die Individuen und deren Bedürfnisse zu kritisieren, sondern die Gesellschaft, die diese Subjektivität und den Wunsch nach autoritärer Befriedigung hervorbringt. Wenn wir etwa über die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen sprechen, ist das nicht Kritik am Verhalten, sondern an den Verhältnissen. Eigentlich geht es darum, aufzuzeigen, wie Menschen eingebunden werden, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln. Das macht den Begriff des Autoritarismus für unsere Forschung so interessant. Er liegt an der Grenze von Gesellschaftstheorie und Psychologie. Mit ihm wird es möglich, die Reaktionen der Menschen als Ergebnis ihrer Vergesellschaftung zu verstehen. Wir können über die Lebensspanne dann sehen, wie sich gesellschaftliche Bedingungen und individuelle Reaktionen verzahnen, wie sie miteinander verbunden sind und wie sich, wenn man so möchte, im Irrsinn des Einzelnen das irre Ganze zeigt.
In der aktuellen Autoritarismus-Studie von 2022 schreiben sie, dass die Studienergebnisse »in ihrer Bedeutung erst erkannt werden können, wenn sie in eine Gesellschaftstheorie eingebettet werden«. Eine solche Annahme galt eigentlich lange als unplausibel: Die Gesellschaft erschien viel zu komplex, als dass man sie auf einen Begriff bringen könnte. Hat sich das geändert?
Ja, »große Erzählungen« waren mal aus der Mode und zum Teil sind sie es auch heute noch. Dieser Abgesang wurde von der Postmoderne angestimmt. Aber wahrscheinlich gab es diese Idee auch schon früher. In unserer Studienreihe hat das nie eine Rolle gespielt. Wir haben immer stark gemacht, dass die Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern als Totalität auftritt – sie ist unhintergehbar und schon gesetzt. Diese Übermacht verschwindet nicht, weil wir sie theoretisch zerlegen. Allerdings ist der Mensch auch kein Reiz-Reaktionsautomat, sondern so etwas wie eine paradoxe innere Umwelt: der Gesellschaft entsprungen, aber als Entsprungenes begegnet er ihr mit Eigensinn. Subjektivität bildet sich durch die Bearbeitung der menschlichen Bedürfnisse in den gesellschaftlichen Strukturen und Bedingungen, nicht unabhängig davon. Die Gesellschaft ist vom Markt beherrscht, von der Totalität der Ökonomie. Es gilt gleichzeitig, diese Herrschaft nicht anzuerkennen und zu verstehen, warum sie von den Menschen begehrt wird. Dafür analysieren wir die Wirkung dieser Totalität in die Individuen hinein, um eine Veränderung möglich zu machen.
Trotzdem hat sich die Gesellschaft ja auch verändert…
Natürlich haben sich etwa durch die mikroelektronische Revolution die Produktionsbedingungen enorm verändert. Dies führte tatsächlich auch objektiv betrachtet zu einer Liberalisierung der Gesellschaft auf allen Ebenen. Aber bestimmte Grundprinzipien, nach denen die Gesellschaft funktioniert, sind gleichgeblieben. Dazu gehört die Ausbeutung, aber auch die Bejahung von Herrschaft in dem Wunsch, ein Bedürfnis nach so etwas wie Versöhnung befriedigt zu bekommen. Ein solches Heils- und Versöhnungsversprechen ist ein Erbe, das die warenproduzierende und kapitalakkumulierende Gesellschaft aus der Religion hat. Dieses Erbe ist auch etwas, was in der Ökonomie über die historische Situation hinausweist. Es ist nicht nur Knechtschaft, eine »Diktatur des Marktes«, sondern an der kapitalistischen Produktionsweise ist etwas, was Menschen begehren. Bei Marx gibt es eine Stelle, an der er über den »Kapitalisten« schreibt – nicht die Einzelperson, sondern die Funktionsweise, die Menschen übernehmen. Von ihm sagt Marx, er treffe mit jedem neuen Land, das er erobert, einfach nur eine neue Grenze, die wieder überschritten werden muss. Das meint nicht bloß eine Systemlogik des kapitalistischen Wirtschaftens, sondern muss auch eine Entsprechung im Bedürfnis der Menschen haben, die so rastlos handeln – also bei uns allen. Es gibt ein Versprechen dieses absoluten Wachstums, das der Akkumulation und der Expansion der warenproduzierenden Gesellschaft mit eingeschrieben ist.
Die Studie und Ihre Forschung sind einem Ideal kritischer Wissenschaft verschrieben. Was verstehen Sie darunter?
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hat einmal gesagt, die Stimme der Vernunft ist leise, aber sie wird sich durchsetzen. Das war sehr optimistisch von ihm, muss man ergänzen. Aber es gibt tatsächlich Fortschritt und die Wissenschaft hat daran ihren Anteil. Gleichzeitig besteht immer die Gefahr, dass sie der instrumentellen Vernunft folgt und in der Naturbearbeitung und Menschenbearbeitung die Gewalt reproduziert, die in der Gesellschaft existiert. Eine kritische Wissenschaft versucht das Moment von Selbstreflexivität sowohl gegenüber der eigenen Tätigkeit als auch gegenüber dem gesellschaftlichen Betrieb aufrechtzuerhalten. Gesellschaftskritik und Wissenschaftskritik sind vornehme Aufgabe kritischer Wissenschaft. Damit ist die Forschung auf ein gesellschaftliches Ziel hin ausgerichtet. Kein konkretes – es geht nicht darum, dass die Leute weniger Fleisch essen und weniger Auto fahren sollen. Die Aufgabe besteht darin, wie Marx es formulierte, alle Verhältnisse umzuwerfen, unter denen der Mensch ein geknechtetes, entrechtetes und gedemütigtes Wesen ist. Oder, wie später Adorno schrieb, alles so einzurichten, dass sich Auschwitz nicht wiederhole. Solche Imperative kennzeichnen eine kritische Wissenschaft, die sich Emanzipation und Aufklärung verschreibt, ohne sich mit konkreten politischen Zielen gemein zu machen. Am Else-Frenkel-Brunswik-Institut betreiben wir etwa sozialraumnahe Forschung und schauen uns bestimmte Konfliktregionen an. Zum einen müssen wir verstehen, wie sich antidemokratische und neofaschistische Bewegungen bis in die Mitte der Gesellschaft durchsetzen können. Zum anderen wollen auch versuchen zu verstehen, wie sich demokratische Gruppen selbst in gesellschaftliche Widersprüche verstricken. Das ist im Grunde unser Verständnis kritischer Wissenschaft: kein Aktivismus, sondern die Reflexion der existierenden Widersprüche.
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