Risse in Benjamin Netanjahus Regierung

Israels Verteidigungsminister Joav Galant plädiert für Pause bei Umsetzung der Justizreform

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

In Tel Aviv haben am Samstagabend erneut geschätzt rund 200 000 Menschen gegen den geplanten Umbau der Justiz demonstriert. Am Sonntag erreichte der Protest auch das Innere des israelischen Parlaments. Während gegenüber im Obersten Gerichtshof, der von den Planer*innen bewusst neben der Knesset gebaut wurde, einmal mehr über das Vorgehen von Regierungschef Benjamin Netanjahu verhandelt wurde, versank der Justizausschuss im Chaos.

Mehr als 3500 Einwände, so viel wie nie zuvor gegen ein Gesetzesvorhaben in Israel, hatten die Oppositionsparteien eingebracht. Und nun brüllten deren Abgeordnete immer wieder »Diktatur«, beschimpften die Regierungsparteien. Einer von deren Abgeordneten rezitierte sarkastisch das jüdische Trauergebet Kaddisch.

Im Obersten Gerichtshof wurde derweil über eine Petition der »Bewegung für Regierungsqualität« verhandelt. Vor einigen Wochen hatten die Richter*innen angeordnet, dass sich Netanjahu aus dem Gesetzgebungsverfahren heraushalten muss. Weil der aber trotzdem immer wieder öffentlich Einfluss nimmt, sollen die Obersten Richter gemäß dem Antrag Strafen gegen den Premier verhängen. Netanjahu steht wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht; er und Abgeordnete seines konservativen Likud haben mehrfach erklärt, dass die geplante Gesetzgebung auch dazu dienen soll, den Prozess, den sie als »Hexenjagd« und »politisch motiviert« bezeichnen, ohne Urteil zu Ende zu bringen.

Doch der Streit hat viel tiefere Ursachen. Die Besatzung der palästinensischen Gebiete, Kriege und Militäroperationen, das Zusammenleben von Säkularen und Religiösen im Alltag haben ethische, gesellschaftliche, politische und juristische Fragen aufgeworfen, die zunehmend die Justiz und letztlich den Obersten Gerichtshof beschäftigen, weil die politische Landschaft zu zerstritten ist.

In der Gründungsphase Israels hatte man bewusst ein politisches System geschaffen, in dem möglichst viele der gesellschaftlichen Gruppierungen Gehör finden können sollten. Parlamente mit Fraktionen in zweistelliger Zahl sind die Folge. Doch die Fähigkeit zu Dialog und Kompromiss ist abhandengekommen; die modernen Abgeordneten jagen heute, anders als früher, Posten und Geld hinterher. Säkulare Israel*innen werfen Netanjahu, mit kurzer Unterbrechung seit 2009 im Amt, vor, Staat und Gesellschaft in einen religiösen Siedlerstaat umzubauen.

Und wenn die Dinge dann bei der Justiz landen, dann fühlen sich Rechte und Religiöse benachteiligt. Gerichte und Staatsanwaltschaften seien links, lautet dann der Vorwurf. Doch dass es gar nicht um diesen tiefen inneren Konflikt, sondern einfach nur darum geht, Netanjahu zu retten, ist etwas, was auch Wähler*innen des Likud bitter aufstößt: Benny Begin, Sohn des ersten Likud-Premiers Menachem Begin, hat sich öffentlich gegen Netanjahu ausgesprochen, ist bei jeder Massendemonstration dabei. Und nun hat sich auch Verteidigungsminister Joav Galant dafür ausgesprochen, das Vorhaben zu beenden.

Der direkte Auslöser war, dass am Freitag mehrere Hundert Reservist*innen der Luftwaffe ihren Reservedienst nicht antraten – aus Protest, wie sie zuvor angekündigt hatten. Doch dass Galant unzufrieden ist, nach Auswegen sucht, war bereits zuvor ziemlich deutlich. So blockiert er bis heute den zusätzlichen Einfluss, den Netanjahu Bezalel Smotrich, einem der Spitzenpolitiker des rechtsradikalen Bündnisses »Religiöser Zionismus«, auf die Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten versprochen hat. Dass Galant sich nun öffentlich gegen den mächtigen Parteichef positioniert, ist auch ein deutliches Zeichen dafür, dass innerhalb des Likud die Schmerzgrenze überschritten ist: Es ist damit zu rechnen, dass sich weitere Abgeordnete gegen Netanjahu in Stellung bringen werden.

Der Premier beschwört hingegen in der Öffentlichkeit immer wieder die »Mehrheit«, die die Koalition hinter sich habe. Doch wenn man alle Nichtwähler*innen mitzählt, haben weniger als 40 Prozent der Wählerschaft für den Likud und dessen Verbündete gestimmt.

Angesichts der Massenproteste fällt der Blick in den Parteizentralen stärker auf die rund 30 Prozent Nichtwähler*innen. Das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Wahlen ist enorm gestiegen. Bis vor wenigen Monaten waren Jair Lapid und seine Zentrumspartei, die zweitgrößte Fraktion, eher farblos. Nun ist Lapid bei den Demos ein bejubelter Redner. Und eine weitere Wahl ist zur attraktiven Option geworden.

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