- Kultur
- Ausstellung »Sung Tieu. No Jobs, No Country«
Das administrative Böse
Die Künstlerin Sung Tieu bedient sich minimalistischer Formen, um in einer Berliner Ausstellung vom Leben der vietnamesischen Diaspora nach der Wende zu erzählen
Der »Schandfleck« soll endlich beseitigt werden. Darüber sind sich scheinbar alle Beteiligten einig, Anwohner*innen, Investoren, die Politik. Mit »Schandfleck« ist das in den 1980er Jahren errichtete »Objekt Gehrenseestraße« gemeint, ein aus neun baugleichen Gebäudeblöcken bestehendes Plattenbaugebiet in Berlin-Lichtenberg. Zwischen 1982 und 1989 waren in dem Wohnheimkomplex, einem der größten dieser Art der DDR, hauptsächlich vietnamesische Vertragsarbeiter*innen untergebracht, die dort unter fragwürdigen Umständen auf fünf Quadratmeter Wohnfläche pro Person und unter ständiger Überwachung leben mussten. Nach der Wende wurden in der Gehrenseestraße außerdem provisorisch (Kriegs-)Flüchtlinge und Asylsuchende untergebracht. Seit 2003 steht es leer; dieses Jahr soll es schlussendlich abgerissen werden und einem »urbanen« Wohn- und Geschäftsquartier weichen.
Die deutsch-vietnamesische Künstlerin Sung Tieu hat dem »Objekt Gehrenseestraße« nun eine Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.) gewidmet und erzählt darin ein Stück Geschichte der vietnamesischen Diaspora in Deutschland. Die 1987 in Vietnam geborene Tieu wuchs ab 1992 in Deutschland auf und lebte von 1994 bis 1997 selbst im Objekt Gehrenseestraße. Die Ausstellung mit dem Titel »No Jobs, No Country« ist sowohl ein autobiografisches Porträt des Lebens innerhalb der Plattenbausiedlung als auch eine Studie zum Verhältnis von bürokratischen Machtstrukturen, westlichem Paternalismus und migrantischen Lebensverhältnissen in Deutschland.
Das auf den ersten Blick markanteste Stück der Ausstellung ist die Stahlskulptur »Block G«, die auf dem Grundriss des Wohnheims beruht und mit Erde aus dem direkten Umfeld des Gebäudes gefüllt ist. Durch ihre monolithische Form und chromierte schwarze Oberfläche setzt sie sich stark vom Rest des Raumes ab, der ganz in Weiß gehalten ist. Bei der Gestaltung des Raumes knüpft Tieu an eigene frühere Arbeiten zum ideologischen Verhältnis von minimalistischer Ästhetik und bürokratischer Machtausübung an. Die in die Wand des Ausstellungsraumes eingefasste Gipsarbeit »Form (for Residence Permit)« stellt vier Antragsformulare für Aufenthaltsrecht dar, die trotz der vermeintlichen Neutralität der minimalistischen Formen ein disziplinarisches Raster entwerfen, in das sich das Individuum fügen muss, um überhaupt rechtlich anerkanntes Subjekt werden zu können.
Nach dem Zusammenbruch der DDR blieb der aufenthaltsrechtliche Status der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen lange Zeit ungeklärt. Die für die DDR-Betriebe angeworbenen und dringend benötigten Arbeitskräfte standen nun plötzlich ohne Arbeit, Heimat und ohne Perspektive da. Es drohten Zwangsausweisungen und Abschiebungen, eine scheinbar gesicherte Existenz ging von einem Tag zum anderen in ein Dasein in einer rechtlichen Grauzone über. Durch eine dezent eingefügte Öffnung zur Fensterseite hin kreiert Tieu im Ausstellungsraum eine Lichtsituation, durch die man ebenfalls den Boden unter den Füßen zu verlieren scheint. Die diffuse Reflexion des eintretenden Sonnenlichts auf der weißen Grundierung des Raumes erzeugt eine Helligkeit mit einer Art »Whiteout«-Effekt. Unter »Whiteout« versteht man ein vor allem in Polargebieten und im Hochgebirge auftretendes meteorologisches Phänomen, bei dem das menschliche Auge kaum noch Kontraste zwischen dem schneebedeckten Boden und anderen Komponenten der Umgebung wahrnimmt, was zu Angstzuständen und Desorientierung führen kann. Diese räumliche Leere entspricht dem, was die Künstlerin das »administrative Böse« der Bürokratie nennt und eine Bedrohung beschreibt, die nicht zu sehen oder zu fassen ist.
Die schwarze Skulptur im Zentrum der Ausstellung ragt jedoch aus dieser Kontrastlosigkeit paradigmatisch hervor und gibt als Blick- und Ankerpunkt Halt im Haltlosen. Diese Widersprüchlichkeit entspricht dem komplexen Verhältnis der Künstlerin zum Minimalismus, der ihre Installationen zwar ästhetisch prägt, aber auch immer wieder – wie in diesem Fall – unterlaufen wird. Die Skulptur öffnet mit ihrer kontrastierenden Härte auch einen Raum, der sich der bürokratischen Verwaltung entzieht und gegen diese ein Stück Handlungsfreiheit einfordert.
Weiterhin ist der Ausstellung ein fiktiver Zeitungsartikel beigelegt, der von Tieu als Replik auf einen Artikel der »New York Times« von 1995 verfasst wurde. Der Text mit dem für die Ausstellung namensgebenden Titel »The Vietnamese in Germany: No Jobs, No Country« versucht die Notlage der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen im Deutschland nach der Wende zu schildern. Diese tauchen darin allerdings lediglich als Opfer der restriktiven Immigrationsgesetzgebung und als bedauerliche Bewohner*innen überfüllter »Ghettos« auf. Mit der Stimme der siebenjährigen Ching rückt Tieu diese Sichtweise in ein anderes Licht: Das »Objekt Gehrenseestraße« ist mehr als eine Unterkunft und sicher kein »Ghetto«, sondern seit zwei Jahren zu einem Zuhause geworden. Eine fiktive Autorin schreibt: »Ich verbringe hier meine prägenden Jahre, glücklich, mit einer Gemeinschaft, die ich schätze und liebe.« Begleitet wird der Artikel von einer intimen Fotoreihe der Künstlerin selbst, die sie im engen Familien- und Freundeskreis an ihrem siebten Geburtstag im »Block G« der Gehrenseestraße zeigt.
Durch diesen historiografischen Eingriff führt Tieu die vietnamesischen Arbeiter*innen selbst als handelnde Akteure in den Nachwende-Diskurs ein und verleiht ihnen so eine eigene Deutungsmacht. Außerdem verrückt sie nachträglich die Perspektive auf den heute zur Ruine gewordenen »Schandfleck« in der Gehrenseestraße. Die Erde, mit der die Skulptur im Showroom des n.b.k. gefüllt ist, markiert das Ende einer Geschichte, die mit dem ausstehenden Abriss des »Objekts Gehrenseestraße« zu Grabe getragen wird. Allerdings steht sie ebenso für die Fruchtbarkeit eines Neubeginns und eine vergangene Zukunft der vietnamesischen Diaspora in Deutschland, die auch mit Sung Tieus Hilfe erst in den letzten Jahren begonnen wurde zu erzählen.
»Sung Tieu. No Jobs, No Country«, bis zum 7. Mai, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.)
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