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Lasst sie kommen!
Der Zirkus gehört jetzt zum deutschen Kulturerbe – mit all seinen Problemen
Seit diesem Monat gehört der Zirkus zum immateriellen Kulturerbe in Deutschland – als eigenständige Form der darstellenden Kunst. Der Zirkus wurde zusammen mit dem »Steigerlied«, der Bergbauhymne, der Handweberei und weiteren zehn Kulturformen in die Liste der Unesco neu aufgenommen.
In Deutschland gibt es schätzungsweise 200 bis 250 Zirkusbetriebe. Nach Auskunft des Verbands Deutscher Circusunternehmen (VdCU) haben sie alle die Pandemie überlebt. Die mittleren und größeren Unternehmen bekamen staatliche Überbrückungshilfen, die die kleinen Zirkusbetriebe nicht in Anspruch nehmen konnten. Doch ihnen »wurde sehr gut aus der Bevölkerung heraus geholfen«, sagt Ralf Huppertz, erster Vorsitzender des VdCU.
In der DDR wurde der Zirkus üppig subventioniert. Man meinte, Akrobatik und Dressur im Sozialismus seien Lenins Vorschlag folgend »wissenschaftlich« zu organisieren. Der DDR-Zirkushistoriker Ernst Günther schreibt im Nachwort zum Buch des sowjetischen Zirkushistorikers Jewgeni Kusnezow »Zirkus der Welt« (1970), dass erst die Oktoberrevolution der »Zirkuskunst ihren ursprünglichen Charakter als Volkskunst« zurückgegeben habe, während sie im Westen zur »Dekadenz« geneigt habe und nach und nach von anderen Massenunterhaltungsformen abgelöst worden sei. Das war etwas voreilig geurteilt.
In der DDR waren die privaten Großzirkusse Busch, Aeros und Barlay erst zum Volkseigentum unter kommunaler Verwaltung erklärt worden, bevor sie zum »Staatszirkus der DDR« zusammengefasst wurden. Mit Auflösung der DDR wurden sie von der westdeutschen Treuhandanstalt aufgelöst, ihre Tiere und Technik verkauft. Einzelne Artistengruppen versuchten – meist vergeblich – Neugründungen. 2020 traf sie auch noch das Verbot, in Zukunft Wildtiere im Zirkus zu halten und zu dressieren. Seitdem dürfen keine neuen Giraffen, Elefanten, Nashörner, Flusspferde und Großbären mehr angeschafft werden.
Die Raubtiere dressierenden Dompteure begannen als »Sensationisten« im Stummfilm. In »Amazonen der Arena. Dompteusen und andere Zirkusartistinnen« (2010) schreibt Stephanie Haerdle, dass »die unverkennbare Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit, zwischen Leben und Tod im Grunde die Stelle [ist], die das Publikum interessiert«. Andererseits arbeiten heute einige Unternehmen, etwa der »Zirkus Barnum«, inzwischen fast nur noch mit Haustieren (die Pflanzen fressen).
Für die Zirkusdirektorin, Raubtiervorführerin und Bestsellerautorin Paula Busch waren die Frauen im Zirkus die ersten Feministinnen. Als Dresseurin brachte es beispielsweise die Eisbärendompteurin Ursula Böttcher zu internationalem Ruhm. Sie hatte ihre Karriere als Putzfrau im Staatszirkus der DDR begonnen. Eine Briefmarke von 1987 zeigt die kleine Frau, wie sie einen riesigen Eisbären küsst. Der Zürcher Zoodirektor und Tierpsychologe Heini Hediger schrieb 1984 über einen ihrer Auftritte und wies darauf hin, dass der Dompteur in seiner Raubtiergruppe das »Superalphatier« sein müsse. In einer Eisbärengruppe sei das besonders schwierig, weil Bären in optischer und akustischer Hinsicht extrem »ausdrucksarm« seien. Dennoch dürfe beim Dompteur keine Angst aufkommen, darin bestehe »das wesentliche ›Geheimnis‹ von Ursula Böttcher im Umgang mit den sie hoch überragenden arktischen Riesen«.
Als sie nach 1989 mit ihren Eisbären in einem spanischen Freizeitpark gastierte, traten erstmalig Tierschützer gegen sie auf, die gegen die Haltung und Dressur im Zirkus demonstrierten. Mit solchen Protesten waren die Zirkusleute in den USA schon nach dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. 1947 meinte Mable Stark, eine berühmte Dompteurin, die mit 20 Tigern auftrat: »Die Raubtierdressur ist auf dem absterbenden Ast. Wie Kohlen schleppen oder Schornsteine fegen. Also wirklich nicht das, was ich einen Markt mit Wachstumschancen nennen würde. Diese verdammten Tierschützergruppen machen überall mobil.« In ihrer 1938 erschienenen Autobiografie »Hold That Tiger« hatte sie ihre Arbeit so beschrieben: »Die Tür der Rutsche öffnet sich, als ich mit der Peitsche knalle und rufe: ›Lasst sie kommen‹, und heraus schlüpfen die gestreiften Katzen, knurrend und brüllend, die sich gegenseitig oder mich anspringen. Es ist ein unvergleichlicher Nervenkitzel, und ein Leben ohne ihn lohnt sich für mich nicht.« Als ihre Tiger erst verkauft wurden, dann aus ihren Käfigen ausbrachen und erschossen wurden, beging Stark Selbstmord.
Ein ähnlicher Schlag traf auch die gefeierte Dompteurin Ursula Böttcher: Nachdem einer ihrer Eisbären eingeschläfert werden musste und der »Zirkusliquidator« der Treuhandanstalt ihre elf anderen Eisbären an Zoos verkauft hatte, weil sie dort »artgerechter« untergebracht seien, wurde ihr 1999 »aus betriebsbedingten Gründen« gekündigt. Im selben Jahr erschien ihre Autobiografie »Kleine Frau, bärenstark«. Darin fragte sie sich: »Soll ich jetzt etwa weiße Mäuse dressieren?« Einen »tierfreien Zirkus der Zukunft« mochte sie sich nicht vorstellen: »Zirkus – ist das nicht allein schon der Geruch?« Sie zog sich resigniert zurück und starb 2010. Ihre Eisbären kamen unter anderem nach Mexiko, Frankreich und in die USA. Die Eisbärin Sonja gelangte über Umwege in den Westberliner Zoo, wo sie ein Junges bekam, Knut, der zusammen mit seinem Pfleger so beliebt wurde, dass der Zoo erstmalig mehr Besucher hatte als der Ostberliner Tierpark. Allerdings wurde Knut nicht alt: Er starb 2011 mit vier Jahren an einer Hirnerkrankung.
Mir erscheint es erst einmal widersinnig, die Dressur von Wildtieren im Zirkus zu verbieten, nicht jedoch die von Menschen in den kapitalistischen Produktionsbetrieben. »Dompteure gibt es ja nicht nur im Zirkus«, sagte der Raubtierdompteur Tom Dieck Junior, der mit drei Tigern und sechs Löwen unter anderem beim Zirkus Busch-Roland gastierte, schon in den Nullerjahren im Deutschlandfunk, als ihn der Schriftsteller Jörn Klare porträtierte. Wenn ein Chef durch seine Firma laufe, dann bewegten sich die Angestellten auf Zehenspitzen, und »genauso ist es eigentlich auch beim Dressieren: Man muss immer zeigen, dass man da ist. Und dass man ein Auge drauf hat auf alle.«
Über den Zirkus sagte Franz Kafka schon 1919 fast alles: »Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde (…), vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.« Stattdessen aber schaut das Publikum zu, wie »eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt«, die der Direktor in der Manege »auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt«. Erst scheint er sich nicht entschließen zu können, »das Peitschenzeichen zu geben«, ehe er »schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt«. Und dann sieht man den Direktor, wie er »neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann«. Und wenn der Direktor die Reiterin schließlich vom Pferd wieder herunterhebt »und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will«, dann »legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen«.
Am Samstag, den 15. April, ist der »Weltcircustag«.
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