- Berlin
- Koalitionsvertrag
Berlin: Nebulöse Mitte
Am Molkenmarkt und Rathausforum drohen fortschrittliche Planungen abgewickelt zu werden
Manchmal kann das, was nicht festgehalten wird, mehr sagen als das, was ausführlich in einem Koalitionsvertrag behandelt wird. So befürchtet es auch die Initiative Offene Mitte Berlin. Am Rathausforum etwa drohe der Stopp der vorgesehenen Umgestaltung. »Ein Abbruch dieser fast schon baureifen Planung wäre ein schwerer Schlag gegen einen klimaresilienten Stadtumbau Berlins«, schreibt die Initiative in einer Einschätzung zum Koalitionsvertrag von CDU und SPD.
Denn anders als 2021, als SPD, Grüne und Linke in ihrem Koalitionspapier vereinbart hatten, dass der öffentliche Freiraum »zügig« und »partizipativ« realisiert werden soll, ist vom Rathausforum bei Schwarz-Rot keine Rede mehr. Eigentlich soll das Areal im kommenden Jahr grün umgebaut werden – mit zahlreichen Bäumen und der Möglichkeit, dass Regen versickern kann. Ein langes Beteiligungsverfahren ging dem voraus, das Büro RMP Stephan Lenzen Landschaftsarchitekten ist zugleich schon weit vorangeschritten mit den Planungen.
Ein Stopp der Umgestaltung wäre deshalb nicht nur mit einem Vertrauensverlust bei den Berlinern, die sich an dem Verfahren beteiligt haben, sondern auch mit der Gefahr von Schadensersatzforderung seitens des Architektenbüros verbunden, befürchtet die Initiative.
Konservative Vereine liebäugeln seit Langem mit einer Bebauung nach historischem Vorbild. Die parteilose, nach der Wahl 2021 von der SPD ernannte Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt, die sich beispielsweise am Molkenmarkt für das historische Vorbild aussprach, stellte dabei eigentlich klar, dass zwischen Spree und Alexanderplatz nicht an den Planungen für eine grüne Freifläche gerüttelt werden soll. »Das Marx-Engels-Forum wird umgesetzt. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Staat eine Planungssicherheit schuldet, dass nicht alle vier, fünf Jahre wieder alles aufgedröselt wird«, sagte sie im vergangenen Jahr bei einem Festival der Stiftung Mitte Berlin, die für den historischen Wiederaufbau wirbt.
Warum das Rathausforum im Koalitionsvertrag ausgespart wurde, bleibt unklar. Julian Schwarze, der Stadtentwicklungsexperte der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, hält zwei Szenarien für möglich. Entweder konnten sich CDU und SPD nicht einigen und man hat den Punkt ausgespart. »Oder der Koalitionsvertrag sollte beim Rathausforum bewusst freigehalten werden, damit sie künftig freie Hand haben.« Beispielsweise, wenn der im Koalitionsvertrag vorgesehene Masterplan für die Mitte Berlin, den die Initiative Offene Mitte als »völlig unnötig« kritisiert, zu dem Ergebnis käme, »dass ihnen hier doch kein Freiraum mehr passt«, wie Schwarze sagt.
»Berlin kann sich nicht noch mal erlauben, sich in der Fachwelt mit einem erneuten Bruch in der Planungskultur lächerlich zu machen«, sagt der Grünen-Politiker. Damit spielt er auf den ersten Bruch im September 2022 an: Das von Kahlfeldt verkündete Ende des Verfahrens zur Bebauung des Molkenmarkts, ohne dass ein Siegerentwurf benannt wird, wie es ursprünglich in der Auslobung vorgesehen war.
Beim Molkenmarkt stellt sich derweil in neuer Brisanz die Frage, ob die Senatsbauverwaltung Parlament und Öffentlichkeit getäuscht hat. Die Vorsitzende der Expertenjury für den Molkenmarkt-Wettbewerb, Christa Reicher, hat gegenüber dem »Tagesspiegel« erklärt, dass die Empfehlungen der Jury von der Senatsverwaltung gekürzt worden seien. Zwar hätte die Redaktionsgruppe der Jury der Senatsverwaltung dazu auch die Möglichkeit gegeben. Allerdings mit der Maßgabe, dass die Redaktionsgruppe dann nicht als Verfasser genannt wird.
In den veröffentlichten Empfehlungen fehlt das von der Redaktionsgruppe verfasste Kapitel zum weiteren Prozess am Molkenmarkt, in dem Empfehlungen zu Transparenz und Beteiligung gemacht werden. Zwischenergebnisse zu einem der »herausragendsten Quartiere der Stadt« sollten in einem öffentlichen Diskurs vermittelt und diskutiert werden. Ein Beirat sollte eingesetzt werden, um »die komplexen Prozesse in der Quartiersentwicklung fachlich zu begleiten und kritisch zu reflektieren«, hieß es seitens der Redaktionsgruppe.
Die Verwaltung von Noch-Bausenator Andreas Geisel (SPD) hatte in einer Antwort auf die parlamentarische Anfrage von Julian Schwarze angegeben, dass die veröffentlichten Empfehlungen dem Text entsprechen, die die Juryvorsitzende an die Senatsverwaltung geschickt hat. Die Kürzung des Kapitels zum weiteren Prozess sei wiederum von der Senatsverwaltung nicht veröffentlicht worden, weil die »Konzeptionierung des weiteren Prozesses« auch bei dieser liege. Warum aber trotz der Kürzung durch die Verwaltung weiterhin die Mitglieder der Redaktionsgruppe genannt werden, obwohl diese es laut »Tagesspiegel« nicht wollten, ist unklar.
Auf nd-Anfrage wiederholt die Senatsverwaltung ihre Darstellung, derzufolge keine Änderungen in dem Dokument vorgenommen wurden. »Es wurde die Fassung veröffentlicht, die am 19. November 2022 durch Frau Reicher als Preisgerichtsvorsitzende und Mitglied in der Redaktionsgruppe bereitgestellt wurde«, antwortet die Pressestelle. Damit widerspricht sie nicht nur ihrer Antwort auf Schwarzes Anfrage, in der sie einräumt, selbst ein Kapitel nicht veröffentlicht zu haben.
Endgültig unübersichtlich wird das Gebaren um den Molkenmarkt auch mit dem genannten Datum. Im Dokument der Redaktionsgruppe, das auf den 7. November 2022 datiert ist, wird angegeben, dass die Empfehlungen der Jury in einem Arbeitszeitraum bis zum 6. November 2022 formuliert worden seien. Die endgültig veröffentlichten und gekürzten Empfehlungen sind wiederum im Dokument der Senatsverwaltung auf den 17. November datiert. Wie die Juryvorsitzende eine Fassung erst zwei Tage später bereitstellen konnte, kann bis Redaktionsschluss auch auf Nachfrage bei der Senatsverwaltung nicht aufgeklärt werden.
Von der Transparenz, die die Jury für die weitere Entwicklung des Molkenmarktes empfehlen wollte, kann keine Rede sein.
Ergänzung: Beim Datum 19.11 handele es sich um einen »Tippfehler«, korrigiert die Senatsverwaltung. Das richtige Datum für die Fassung, die von der Juryvorsitzenden eingereicht worden sei, wäre der 17.11.2022.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.