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Solidarische Strukturen in der Türkei
Nach dem verheerenden Erdbeben haben Sozialist*innen mit aller Kraft die lokale Bevölkerung zu versorgen versucht
Mit einem Erdbeben müsse man lernen umzugehen und entsprechende Vorkehrungen treffen, twitterte der türkische Präsident Erdoğan – im Jahr 2013. Dass im Südosten der Türkei kaum präventive Maßnahmen getroffen wurden, belegt der Anblick, den Städte wie Antakya und Kahramanmaraş bieten. Zehntausende Gebäude liegen in Trümmern, unter denen viele ihrer Bewohner*innen begraben wurden. Viele Menschen sind erfroren, weil über Tage keine Such- und Rettungseinheiten in die Region geschickt wurden.
Die Überlebenden fordern nun eine provisorische Infrastruktur aus Zelten und Sanitäranlagen – auch daran mangelt es neun Wochen nach den schweren Beben immer noch. Im ebenfalls stark erdbebengefährdeten Istanbul nimmt die Angst vor einer noch schlimmeren Zerstörung der Stadt weiter zu.
Der genaue Zeitpunkt eines Erdbebens ist nicht vorhersehbar. Deshalb müsste man dort, wo tektonische Platten aufeinandertreffen, so planen und bauen, als könnte es jeden Moment passieren. Nun kann man keine Stadt mit Millionen Einwohner*innen von heute auf morgen abreißen und neu aufbauen. Mit dem Erdbeben zu leben heißt deshalb auch, eine Gesellschaft so zu organisieren, dass im Fall des Falles schnelle Rettungsmaßnahmen möglich sind.
In der Türkei gibt es eine bedeutende Bergbauindustrie. Die Kumpel sind Experten darin, tief in der Erde sichere Tunnel zu graben, die nicht einstürzen. Nach starken Erdbeben ist genau diese Erfahrung nötig, um die Menschen schnell aus den Trümmern zu bergen. Bei dem Erdbeben in Izmir 2020 waren die Bergleute schnell zur Stelle. Auch nach diesem Beben im Südosten der Türkei machten sie sich umgehend auf den Weg. Vor Ort fehlten ihnen jedoch die benötigten Grabungswerkzeuge, denn diese werden zeitgleich für den Kohleabbau in den Bergwerken verwendet.
Die Geräte, mit denen man Trümmer beseitigt, überschneiden sich mit denen, die für die Errichtung von Gebäuden gebraucht werden. Zum gleichen Zeitpunkt, zu dem in Istanbul ein Kran eine Betonplatte zu einem neuen Gebäude trug, suchte ein Mensch in Antakya ebenjenes Gerät, um die Überreste seines Wohnhauses anzuheben, unter dem seine Angehörigen um Hilfe riefen. Und während die geretteten Menschen obdachlos auf der Straße sitzen und nicht einmal Zelte ihnen Schutz bieten, produzieren Textilfabriken einige hundert Kilometer entfernt weiterhin Klamotten für den europäischen Markt.
Die Auswirkungen der Naturkatastrophe auf die betroffenen Menschen zeigen deutlich die Probleme der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Statt in kürzester Zeit große Ressourcen der Industrie auf die Bedürfnisse im Erdbebengebiet auszurichten, spendeten große türkische Firmen in einer Fernsehshow hohe Geldbeträge, die ihnen zuvor als staatliche Subventionen zuflossen. Statt auf Wissenschaftler*innen zu hören, die vor einer schnellen Neubebauung der Region warnen, verkündete die AKP-Regierung noch kurz vor einem erneuten schweren Nachbeben, innerhalb eines Jahres ganz Antakya wiederaufzubauen.
Die landesweiten Strukturen von Sozialist*innen waren es, die in den vergangenen Wochen mit aller Kraft versuchten, die lokale Bevölkerung zu versorgen. Dabei haben sie inmitten der Zerstörung auch einen Ansatz für den Aufbau einer neuen Gesellschaft geschaffen. Die systematische Unterdrückung von Gewerkschaften und linken Organisationen ist nicht nur eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Sie behindert auch die schnelle Reaktion auf Naturkatastrophen, die Umstellung der Produktion auf das Notwendigste, die Schaffung schneller Kommunikation und guter Logistik. Die Politik für Profite statt für die Menschen wird auch die Mitsprache der Erdbebenopfer beim Wiederaufbau ihrer Heimatorte unterbinden wollen. Umso wichtiger ist es, nun die provisorischen Solidaritätsstrukturen in permanente politische Organisierung zu verwandeln.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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