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Enerhodar in der Ukraine: »Es ist schwierig, dort zu leben«
Der Bürgermeister von Enerhodar, Dmytro Orlow, über die Lage in der von Russland besetzten Stadt
Durch die Aula dringt Stimmengewirr und Kindergeschrei. Mitten in der Sammelunterkunft steht eine Frau mit einer Schere in der Hand vor einem Mann und schneidet ihm die Haare. Hier im Zentrum der ostukrainischen Großstadt Saporischschja leben viele, die ihre Heimatstadt Enerhodar verlassen mussten, nachdem russische Truppen die Stadt und mit ihr das größte Atomkraftwerk Europas im März 2022 besetzten. Unter ihnen ist auch der Bürgermeister Dmytro Orlow. Die Geflüchteten versuchen, ihren Alltag zu leben. Der Krieg ist aber auch hier allgegenwärtig. So sammeln die Menschen Dosen für die Soldaten an der Front, »damit sie ihre Kerzen hineinstellen können«, wie eine Frau erklärt.
Dmytro Orlow wurde 1985 in Melitopol im Gebiet Saporischschja geboren. Ab 2007 arbeitete der studierte Kerntechnikingenieur in verschiedenen Bereichen des AKW Saporischschja in Enerhodar. 2020 wurde er als Kandidat der vom Oligarchen Ihor Kolomejskyj unterstützen Partei Für die Zukunft zum Bürgermeister von Enerhodar gewählt. Einen Monat nach der Einnahme der Stadt durch russische Truppen im März 2022 konnte Orlow nach Saporischschja fliehen, von wo aus er weiter als Bürgermeister agiert.
Herr Orlow, wie sieht es aktuell in Enerhodar aus?
Groben Schätzungen zufolge leben derzeit noch etwa 15 000 Menschen in Enerhodar. Vor der Besatzung waren es 53 000. Die Menschen leben unter enormem Druck, sowohl psychisch als auch physisch. Die Besatzer überprüfen regelmäßig die Smartphones, durchsuchen Wohnungen, Häuser und Garagen. Wenn sie eine Person verdächtigen, proukrainisch zu sein, kommt sie in einen Keller. Dort finden schreckliche Dinge statt. Die Menschen werden gefangen gehalten, geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert. Oft werden auch Schusswaffen eingesetzt. Manch einer hat diese Keller verkrüppelt verlassen, mit Narben von Schusswaffen an Beinen und Armen.
Aber wer geblieben ist, hat seine Wahl getroffen.
Das kann man so nicht sagen. Seit Dezember 2022 verbieten die Besatzer den Bewohnern, die Stadt zu verlassen. So ist die Straße über die Stadt Wasyliwka nach Saporischschja vollständig gesperrt. Seit sechs Monaten darf auch keine humanitäre Hilfe mehr nach Enerhodar geliefert werden, obwohl zuvor regelmäßig Hilfsgüter für bedürftige Menschen in die Stadt geschickt wurden.
Und wie ist die Stimmung dort?
Es ist schwierig, dort zu leben. Zunächst einmal ist es psychologisch schwierig. Die meisten Menschen warten auf eine Befreiung durch die ukrainischen Streitkräfte. Mal abgesehen von den Kollaborateuren, die mit den Besatzern zusammenarbeiten. Viele sind das aber nicht. Und diese werden zunehmend nervös. Einige von ihnen sind bereits auf russischem Territorium.
Und was machen die russischen Militärs in Enerhodar?
Sie stehlen. Das war das erste, was sie nach ihrer Besetzung von Enerhodar gemacht hatten. Dann, einen Monat später, wurden die Soldaten ausgewechselt. Und die Neuen waren genauso wie die Vorgänger. Haben Haushaltsgeräte gestohlen und den Bewohnern Geld abgenommen.
Stimmt es, dass das russische Militär Druck auf die Mitarbeiter des AKW ausübt, einen Arbeitsvertrag mit der russischen Atomenergie-Agentur Rosatom zu unterzeichnen?
Ja. Aber die Mitarbeiter sind damit nicht einverstanden. Doch wer keinen Vertrag mit Rosatom unterschreibt, kann dort nicht mehr arbeiten. Außerdem üben die Besatzer Druck aus, psychischen und physischen. So wollen sie erzwingen, dass die Mitarbeiter die Verträge unterschreiben.
Und das Schulungszentrum des AKW wird aktuell genutzt?
Nein.
Ist diese Situation gefährlich?
Das Personal, das nicht direkt für die Sicherheit des AKW verantwortlich ist, wird vor die Wahl gestellt: Entweder ihr unterschreibt einen Vertrag mit Rosatom oder ihr könnt hier nicht mehr arbeiten. Anders ist das bei Personen, die für die Sicherheit des AKW von entscheidender Bedeutung sind. Gegenüber diesen Mitarbeitern ist man tolerant. Sie werden nicht gezwungen, einen Vertrag zu unterschreiben. Insgesamt ist natürlich die Präsenz des russischen Militärs im AKW eine Bedrohung für die Sicherheit dieser Anlage.
Und was machen die russischen Militärs auf dem Gelände des AKW?
Sie nutzen das Atomkraftwerk als nuklearen Schutzschild. Von dort beschießen sie umliegende Städte und Dörfer. Zum Beispiel Marhanez und Nikopol, die auf der anderen Seite des Kachowka-Stausees liegen. Auf dem Gelände des AKW haben sie Soldaten, Munitionsdepots und militärisches Gerät. Dies ist ebenfalls gefährlich, da sich dadurch die Gefahr eines Brandes, einer versehentlichen Detonation einer Granate oder einer Explosion erhöht.
Wie steht es um die Versorgung mit Wasser und Strom in Enerhodar?
In der Stadt gibt es Wasser und Strom. Im Prinzip funktionieren alle kommunalen Betriebe. Zwar gibt es immer wieder Probleme, aber sie sind nicht kritisch.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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