Eva Viežnaviecs: Hoffnung in Belarus

»Was suchst du, Wolf?« von Eva Viežnaviecm ist eine kurze Gewaltgeschichte von Belarus und eine Novelle mit der Wucht eines Vorschlaghammers

  • Ingo Petz
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Helle im Dunklen von Belarus suchen: Der Mond über Minsk
Das Helle im Dunklen von Belarus suchen: Der Mond über Minsk

All diese Gewalt, Brutalität, so viele Tode und Morde. Es ist schwer, diesem blutigen, düsteren Schicksalsstrom zu entrinnen, der sich unheilvoll durch die Sümpfe und Wälder frisst und alles mit sich reißt und dessen schwarzes Gift das Leben der Menschen von Palessje verseucht. So heißt die mystische Region im Süden von Belarus, der bereits der belarussische Klassiker Ivan Melesch mit seinem epischen Werk »Die Menschen im Sumpf« (1962) ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Eine Region, die – so sagen die Belarussen – auch prägend für ein Volk war, das sich immer wieder vor neuen Mächten, Armeen, Kriegsherren und Tyrannen in die unbegehbaren Sümpfe zurückziehen musste, um Krieg und Mord zu entgehen. Dieses Zurückweichen, so kann man sagen, hat sich auch in der politischen Kultur der Belarussen niedergeschlagen, die sich den meisten fremden Mächten und Herrschern schutzlos ausgeliefert sahen – der Rückzug, das Wegducken also als Überlebensstrategie, die mit immer besser organisierten Mächten und Armeen vor allem mit dem Ersten Weltkrieg und den Sowjets obsolet wurde.

Palessje ist auch der Schauplatz des zweiten Buches der belarussischen Autorin Eva Viežnaviec, die eigentlich Sviatlana Kurs heißt und die in dieser Region rund um das Städtchen Ljuban aufgewachsen ist, wo bis heute auch Wölfe umherstreifen. In einem Interview hat sie gesagt, dass sie »nichts erfinden musste« für »Was suchst du, Wolf?«, ihre recht kurze, aber intensive Novelle, die den Leser mit der Wucht eines Vorschlaghammers trifft.

Viežnaviec macht sich auf die Suche danach, was der unaufhörliche Horror mit den Menschen macht, wie Gewalt Generationen und deren Lebenswege prägt. »Nichts hält sich hier, nichts, ganz egal, ob die Erde morastig oder ausgetrocknet ist.« Zu dieser Einschätzung über ihre Heimat kommt die Erzählerin Ryna an einer Stelle in diesem gewaltigen literarischen und trotz aller Brutalität hochpoetischen Buch. Zu Beginn der Geschichte kehrt sie zurück in ihre Heimat, in die Welt des Morasts. Sie ist eine Entwurzelte, was sich auch darin zeigt, dass sie Alkoholikerin ist. Sie hat sich versucht, geographisch und geistig von den Geschichten und von der Geschichte ihrer Heimat zu lösen, die sie im Innersten allerdings weiterhin umtreiben und ihr Lebensgleichgewicht nachhaltig stören.

Aufgewachsen ist sie bei ihrer Großmutter Darafeja, Daroschka genannt, die im Alter von 101 Jahren verstorben ist. Deren Geschichte und die ihrer Enkelin Ryna bilden sozusagen den Spiegelpunkt des Buches. Daroschka war eine Scheptucha, eine Flüsterin, die Gebrechen und Krankheiten durch das Flüstern von Wortformeln zu heilen versuchte. Es ist ein archaische Heilkultur, die bis heute in der belarussischen Provinz praktiziert wird und die von der Großmutter an die Enkelin weitergeben wird. Das Mystische, das Unerklärliche, Belarus’ Welt der märchenhaften Fabelwesen und Naturgeister bildet den Unterbau von »Was suchst du, Wolf?«: »An Lichtmess beteten Großmutter und ich stets für die Sümpfe, dass die Sumpfgeister und Wassermänner keine Schafe holten und keine Betrunkenen ersäuften.«

Die Lebensgeschichte von Darafeja liest sich wie eine Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, die den belarussischen Kulturraum besonders hart traf: der Erste Weltkrieg, polnische Herrschaft, die Bolschewiken, die Zeit der Kollektivierung und der Stalinistischen Säuberungen, dann der Horror des Zweiten Weltkriegs, deutsche Besatzung, Holocaust, der Partisanenkampf, der auch die lokale Bevölkerung terrorisierte – Viežnaviec gelingt es, diese Zeit der ungeheuerlichen Verwerfungen und Finsternis in kurzen Episoden, in einer prägnanten Sprache, angefüttert mit historischen Details, so lebendig werden zu lassen, dass dem Leser schwindelig wird bei einer derart komprimierten Zeitreise. »Nach dem Krieg aßen wir Teigklumpen mit erfrorenen Kartoffeln, die Kinder gruben im Frühling im Boden wie die Wildschweine – aßen Kalmus, Melde und allerlei Wurzeln.«

Die Autorin zeigt sehr anschaulich, wie sehr die einfachen Belarussen und besonders die Juden zum Spielball im zynischen Machtstreben der wechselnden Herrscher, Autoritäten, Opportunisten oder Wichtigtuer wurden, wie wenig das Leben im Fadenkreuz der Mächtigen wert war. An dieser Stelle sei betont: Tina Wünschmann ist es zu verdanken, dass dieses Buch, dem man sehr, sehr viele Leser wünscht, nun auch bei uns zugänglich ist. Sie hat im Deutschen eine äußerst packende und fließende Form der Übertragung gefunden, was gewiss keine leichte Aufgabe war, da das Original mit lokalen belarussischen Ausdrücken, Wörtern und Formeln gespickt ist.

Diese Geschichte ist aber nicht nur eine Aufarbeitung der wechselvollen, hierzulande leider immer noch unbekannten Geschichte von Belarus, sondern vor allem eine kraftvolle Huldigung der belarussischen Frauen, ihrer Stärke und emanzipierten Lebensgewandtheit. Was sich auch bei den historischen Protesten von 2020 zeigte, als die Frauen eine führende Rolle in diesem politischen Selbstermächtigungsprozess übernahmen. Frauen – die in Belarus eine deutlich höhere Lebenserwartung haben als Männer – sind aber auch, so lässt es sich nach der Lektüre interpretieren, die Bewahrerinnen von Sprache, Kultur und Geschichten, die Belarus’ wechselnde Beherrscher immer wieder ausradieren wollten, um ihre eigenen Narrative zur Machtsicherung durchsetzen zu können. Da ist es mehr als folgerichtig, dass Viežnaviec 2021 den renommierten belarussischen Jerzy Giedroyc-Preis für ihr Buch erhalten hat – und zwar tatsächlich als erste Frau.

Eva Viežnaviec: Was suchst du, Wolf? A.d. Belaruss. v. Tina Wünschmann. Zsolnay, 144 S., geb., 22 €.

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