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Das Geschäft mit der Grenze
Unternehmen, Forschungsprojekte und Nichtregierungsorganisationen gestalten Europas Abschottung mit und verdienen daran
Mauern, Grenzzäune, Stacheldraht und gewaltsame Zurückweisungen von illegalisierten Migrant*innen durch den Grenzschutz: Das ist die gängige Vorstellung von den EU-Außengrenzen. Tatsächlich erstrecken sich zwischen Polen und Belarus sowie zwischen Serbien und Ungarn meterhohe und kilometerlange Grenzzäune aus Stacheldraht. Ceuta und Melilla, die spanischen Exklaven in Marokko, umgibt ein ganzes Grenzsystem mit Bewegungssensoren und bis zu drei Reihen von teilweise sechs Meter hohen Zäunen. Die kroatische Polizei weist Menschen illegal zurück nach Bosnien und Herzegowina. Aber zum europäischen Grenzschutz gehört noch viel mehr: Auch Beratungsfirmen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Sozialdienstleister und Rüstungskonzerne sind Teil davon. Ihr Beitrag ist subtiler, weniger sichtbar, aber nicht weniger bedeutend. Ein exemplarischer Blick auf vier Unternehmen und Organisationen.
Aufgerüstete Luftüberwachung
Die zur Umsetzung der EU-Abschottungspolitik benötigte Technologie wird zu großen Teilen von der Rüstungsindustrie bereitgestellt. Grenzüberwachung basiert mittlerweile auf einer ganzen Bandbreite an Technik, Fahrzeugen, Drohnen und Software zur Erfassung von Identitäten über Fingerabdrücke. Die private Industrie bedient dabei nicht nur passiv einen Markt für benötigte Rüstungsgüter, sondern erforscht und entwickelt neue Werkzeuge und verkauft diese an Frontex und nationale Grenzpolizeien.
Drohnen sind ein Beispiel dafür, wie Technologie die Form der Grenzüberwachung prägt. Die Fluggeräte sind in der Lage, weit vor den Seegrenzen der EU nach Flüchtenden Ausschau zu halten. Im Gegensatz zu Booten können Drohnen aber keine Rettungsmission durchführen. Werden Boote mit illegalisierten Migrant*innen gesichtet, so übermittelt man die Informationen an Akteur*innen wie die libysche Küstenwache. Diese führt Schutzsuchende widerrechtlich und teils unter Einsatz von Schusswaffen zurück nach Libyen. Durch die Luftüberwachung mit Drohnen wird die Grenzkontrolle in das Gebiet vor den Hoheitsgewässern der EU verschoben – und damit in einen Raum, in dem die rechtlichen Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten nicht gelten.
Die Heron-1-Drohne kommt dabei häufig zum Einsatz. Sie ist auf mittlere Höhen bei langen Strecken ausgelegt. Mit ihr wird insbesondere die südliche Außengrenze, also das zentrale Mittelmeer überwacht. Das Fluggerät wird vom israelischen Konzern Israel Aerospace Industries hergestellt und vom deutschen militärischen Arm des Luftfahrtunternehmens Airbus im Auftrag von Frontex betrieben. Der ursprüngliche Rahmenvertrag zwischen Frontex und Airbus wurde im Dezember 2022 auf insgesamt 75 Millionen Euro erweitert und umfasst die Bereitstellung und den Betrieb der Drohnen.
Darüber hinaus verdient Airbus auch am Einsatz der Heron-1-Drohne auf dem Festland. Bis zum Ende des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan und bis voraussichtlich April 2024 für die MINUSMA-Mission in Mali unterstützt Airbus damit die Luftüberwachung. Das dort gesammelte Wissen über den Betrieb der Drohne zahlte sich bei der Vergabe des Rahmenvertrags mit Frontex aus. Angesichts der militarisierten Grenzkontrollen überrascht es nicht, dass Rüstungsunternehmen sowohl in Kriegen als auch im Grenzschutz ihre Produkte und Leistungen verkaufen. Es hat jedoch einen bitteren Beigeschmack, wenn dasselbe Unternehmen sowohl am Fluchtgrund Krieg als auch an der Verhinderung der Flucht verdient. Airbus äußerte sich auf Nachfrage nicht zur moralischen Fragwürdigkeit dieses Geschäftsmodells.
Der Einsatz von Rüstungsgütern macht deutlich, dass »Grenzschutz« nicht den Schutz von Menschen meint. Wegen der Ausweitung der Luftüberwachung im Mittelmeer wichen Migrant*innen auf schwerer lokalisierbare Schlauchboote aus. Doch diese Boote sind nicht für die Überquerung des Meeres geeignet, was die Todeszahlen an der blauen Grenze in die Höhe trieb. Und obwohl die Technologie letztlich Menschenleben gefährdet, dreht sich die Rüstungsspirale weiter: Airbus ist mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt seit 2019 auch Rahmenvertragspartner der EU in der Satellitenaufklärung. Und im Oktober 2022 hat Frontex ein weiteres Pilotprojekt im Wert von 2 720 000 Euro für vertikal startende Drohnen mit Portugal und Italien als Einsatzorten ausgeschrieben. Auch in Zukunft werden Unternehmen wie Airbus von der Abschottungspolitik profitieren.
Staatlich bestellte humanitäre Arbeit
Laut eigenen Angaben ist der Danish Refugee Council (DRC) eine der »besten Nichtregierungsorganisationen weltweit«. Seit 1956 hilft die Organisation Flüchtenden und Binnengeflüchteten in 40 Ländern. Sie leistet medizinische Unterstützung, insbesondere erste Hilfe, betreibt provisorische Camps und organisiert Rückführungen in Herkunftsländer. So versucht der DRC in Moldawien durch gezielte Infrastrukturmaßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und der Lebensbedingungen von Schutzsuchenden in Camps beizutragen. Dazu gehören unter anderem kleinere Verbesserungen an Unterkünften sowie an Wasser- und Sanitärstandards. In Bosnien und Herzegowina leistet das DRC unter anderem psychische und psychosoziale Unterstützung für Asylsuchende, Flüchtende und Migrant*innen. In Griechenland ist das DRC in sechs Notunterkünften präsent und bietet eine Reihe von Unterstützungsdiensten an, darunter Rechtsbeistand, Schulvorbereitung sowie Maßnahmen zur Entwicklung von Fähigkeiten und zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit.
Finanziert wird der DRC mit seinen rund 7500 Angestellten unter anderem durch die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), verschiedene UN-Organisationen und Programme (IOM, UNHCR) sowie mit Geldern aus EU-Fonds. Mit diesen wird auch die Ausrichtung der Projekte des DRC bestimmt. Über Bedingungen, die an die Geldvergabe geknüpft sind, wird kontrolliert, welche humanitäre Arbeit geleistet wird und welche nicht.
Im Kontext der EU-Grenze widerspricht das staatliche Interesse – die Aufrechterhaltung der Grenze – aber dem Interesse von illegalisierten Migrant*innen – ihrer Mobilität. Das führt dazu, dass insbesondere staatlich finanzierte NGOs zu einer Verhärtung und Verdichtung der Abschottungsmechanismen an der EU-Außengrenze beitragen. So berichteten beispielsweise Schutzsuchende und Aktivist*innen im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet, dass der DRC in ihre provisorischen, selbstorganisierten Behausungen gekommen sei, um sie zu zählen. Die lokale Polizei transportierte dann mit Hilfe der vom DRC gesammelten Daten die Schutzsuchenden auch gegen ihren Willen in staatliche Camps. Auf Nachfrage antwortete Hector Carpintero, der Landesdirektor für Bosnien und Herzegowina des DRC: »Mitarbeiter*innen des DRC waren zu keinem Zeitpunkt in Gewalttaten oder Gewaltanwendung verwickelt, und wenn wir so etwas vor Ort gesehen hätten, würden wir es natürlich melden. Unsere Aufgabe bei Umsiedlungen besteht darin, in Abstimmung mit anderen humanitären Akteuren und Behörden, ein schützendes Umfeld für die Menschen zu schaffen.« Das dürften die Betroffenen und Aktivist*innen teilweise anders sehen. Denn die Unterstützung von Schutzsuchenden, so wie der DRC sie leistet, trägt auch dazu bei, bestehende Systeme und Strukturen aufrechtzuerhalten, die am Ende schädlich für Flüchtende sind. Das Bereitstellen von humanitärer Hilfe hält Geflüchtete in einem Abhängigkeitszustand.
Während die EU ihre Verantwortung gegenüber Schutzsuchenden durch die Arbeit von Organisationen wie dem DRC in Teilen auslagern kann, sind diese weitgehend den Interessen der Geldgeber*innen verpflichtet. Mit einem steigenden Anteil projektgebundener Finanzierung und verstärkter Kontrolle bei der Projektumsetzung werden die Spielräume für NGOs noch kleiner.
Abschieben nach Unternehmerlogik
Dass McKinsey neben Banken und großen Unternehmen auch (supra-)staatliche Institutionen zu seinen Auftraggebern zählt, ist spätestens seit der Berateraffäre der Bundeswehr bekannt. So vergab das Verteidigungsministerium unter Ex-Ministerin Ursula von der Leyen Aufträge in Millionenhöhe zur Weiterentwicklung und Digitalisierung der Armee an die in Berlin ansässige Beraterfirma Orphoz, eine Tochterfirma des US-amerikanischen Beratungsgiganten McKinsey. Später erhielt McKinsey ohne öffentliche Ausschreibung Aufträge von der EU in Millionenhöhe zur Umsetzung des Türkei-EU-Deals. Die Zusammenarbeit zeigt, wie Beratungsfirmen und Politik eine Grenz- und Abschiebelogistik entlang betriebswirtschaftlicher Denkweisen aufbauen. Grundrechte und Prinzipien von Asylverfahren sind dabei nebensächlich.
Recherchen des Balkan Investigative Reporting Networks und des »Spiegel« ergaben, dass McKinsey im Kontext des Türkei-EU-Deals 2016 zunächst für zwölf Wochen unentgeltlich für die EU arbeitete. Anfang 2017 zahlte sich die Zusammenarbeit aus: Als sich nach Abschluss des umstrittenen Deals herausstellte, dass sich die Asylverfahren für die in Griechenland gestrandeten Schutzsuchenden nicht so einfach wie gedacht beschleunigen ließen, wurde McKinsey mit einem Vertrag in Höhe von 992 000 Euro über Beratungen zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit des griechischen Asylsystems beauftragt. Diese Empfehlungen aus dem Maßnahmenplan übernahm die EU dann – teils wortwörtlich – in ihren Umsetzungsplan zum Deal mit der Türkei. McKinsey empfahl, die Klagemöglichkeiten und damit den Rechtsschutz von Asylsuchenden einzuschränken, die Abschieberaten zu steigern und durch eine Kategorisierung von Schutzsuchenden die Prozesse zu optimieren. Ein öffentliches Vergabeverfahren, wie es die Vergaberichtlinien der EU eigentlich verlangen, hatte es für den Vorgang nicht gegeben. Die EU begründete das Abweichen von den Richtlinien mit Zeitdruck. Der Europäische Rechnungshof hingegen stufte die ausschreibungslose Vergabe als irregulär ein.
Auch das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat sich mehrfach von McKinsey beraten lassen. Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im Jahre 2017 geht hervor, dass mit 660 Beratertagen à 2300 Euro (zuzüglich Mehrwertsteuer) im Jahr 2016 alleine 1 806 420 Euro Steuergelder an das Unternehmen flossen. Ziel der Beratungen war es, Abschiebungen »nach Optimierungsmöglichkeiten zu untersuchen«. Bis 2018 vergab das BAMF externe Aufträge in Höhe von 54,8 Millionen Euro. 43,4 Millionen davon gingen an McKinsey, 26,2 Millionen davon ohne eine öffentliche Ausschreibung. Das deckt sich mit den Recherchen der Informationsplattform »Frag den Staat«, laut der mehr als die Hälfte der Aufträge ohne Ausschreibungen vergeben wurde. Nachdem der Skandal publik geworden war, kündigte der damalige Innenminister Horst Seehofer (CSU) der Beratungsfirma. Seitdem wurde keine weitere Beauftragung externer Beratungsfirmen bekannt.
McKinsey war nicht passiver Nutznießer einer fragwürdigen Abschiebestrategie, sondern gestaltete sie in der Logik einer Unternehmensberatung aktiv mit. In derselben Logik übte der Staat dann sein Gewaltmonopol aus.
Forschung zu »intelligenten« Grenzen
»Tresspass« heißt ein internationales Forschungsprojekt zur »Verbesserung« des technologisierten Grenzschutzes. Der Name (trespass ist engl. für Hausfriedensbruch) ist dabei so makaber wie passend. Gefördert und finanziert wird das Projekt durch eine Vielzahl europäischer Instituten sowie staatlicher und internationaler Programme. Unter anderem die griechische Polizei, das Fraunhofer-Institut und der Amsterdamer Flughafen Schiphol sind darüber finanziell an der Entstehung einer Software beteiligt, die ankommende Migrant*innen nach oberflächlichen Kriterien kategorisieren und dann anhand von Sicherheitserwägungen die Entscheidung über deren Einreiseerlaubnis maßgeblich beeinflussen soll. Das Projekt wurde außerdem mit Mitteln aus dem Forschungs- und Innovationsprogramm »Horizont 2020« der Europäischen Union unter der Finanzhilfevereinbarung Nr. 787120 gefördert.
Gemäß den Beschreibungen auf der (mittlerweile nur noch über archive.org abrufbaren) Website des Projekts soll »Tresspass« die Sicherheitskontrollen an Grenzübergangsstellen modernisieren. Zentral ist dabei die Idee der »risikobasierten« Sicherheitskontrollen. Das Projekt entwickelt eine Software, die die vermeintliche Bedrohung, die von den gescannten Personen ausgeht, erfasst. Anhand der verfügbaren Daten, die mit Hilfe von Hintergrundinformationen, Sensoren und Anwendungen gesammelt werden, soll die Gefahr durch die Reisenden – hinsichtlich »Schmuggel, irregulärer Einwanderung, grenzüberschreitender Kriminalität und Terrorismus« – auf der Grundlage des durch »Tresspass« eingeführten vierstufigen Risikomanagementansatzes zuverlässig berechnet werden. Entsprechend passt das System dann die Anzahl und die Art der für jede*n Reisende*n erforderlichen Sicherheitskontrollen an. Dass beim Einsatz von Algorithmen und künstlicher Intelligenz rassistische Annahmen das Verhalten der Technologie prägen, ist schon lange bekannt. Durch die Auslagerung von Einschätzungen bei der Grenzkontrolle auf Technologie ist erwartbar, dass die ohnehin rassistischen Logiken der EU-Grenze weiter bestehen – jedoch unter der Annahme vermeintlich neutraler Forschung.
Unter dem Deckmantel von Wissenschaft und Forschung, die unpolitisch und ergebnisoffen sein sollen und deswegen in Deutschland grundgesetzlichen Schutz und umfangreiche öffentliche Förderungen und Privilegien genießt, werden Gelder zur Ausweitung des Grenzschutzes genutzt. Auf Nachfrage betont das beteiligte Fraunhofer-Institut die Anerkennung des Wertes der Vielfalt. »Gerade in der Wissenschaft fördern die Ideen von Menschen anderer Kulturen, Religionen und Nationalitäten Innovationen und bereichern uns alle. Diese Überzeugung spiegelt sich auch in unserer Forschung wider«, sagt Elisa Orrú von der Pressestelle des Instituts. Racial Profiling werde daher als »unwissenschaftlich« abgelehnt. Dass das EU-Grenzregime durch den systematischen Ausschluss von großen Teilen der Weltbevölkerung rassistisch funktioniert, wird ausgeblendet.
Zum praktischen Einsatz der entwickelten Technologie liegen bisher keine Informationen vor. Dennoch lässt sich feststellen, dass das Projekt »Tresspass« keine ergebnisoffene Forschung ist, sondern Produkte entwickelt, die Werkzeug einer politisch gewollten Abschottungspolitik sein können. So profitieren auch Forschungseinrichtungen von der Aufrüstung an den Grenzen.
Die genannten Akteur*innen und ihresgleichen sind selten Thema, wenn es um die Toten an den EU-Außengrenzen oder die gewaltvolle Abschottung der EU geht. Und das, obwohl sie teilweise mit Steuergeldern der Bürger*innen in Deutschland und der EU finanziert werden. Alle vier Unternehmen und Organisationen verbindet, dass sie direkt oder indirekt von der Grenze profitieren. Durch ihre Arbeit tragen sie auch aktiv zu der Art und Weise bei, wie die Grenze funktioniert.
Marita Fischer studiert Rechtswissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin und arbeitet als freie Journalistin. Dominik Winkler arbeitet als Stratege in der politischen Kommunikation und promoviert zur politischen Ökonomie von Solidarität im Kontext von illegalisierter Migration und Grenzen.
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