- Politik
- Waffenlegalisierung
Gewalt in Ecuador eskaliert
Fernando Carrión Mena über die Legalisierung von Schusswaffen, Femizide und Bandenmorde
Anfang April hat Ecuadors Präsident Guillermo Lasso das Tragen von Waffen in Ecuador mit dem Verweis auf die steigende Kriminalität im Land legalisiert. Wie denken Sie über dieses Dekret des Präsidenten?
Das Dekret hat eine Vorgeschichte: Bereits 2022 wurde 193 000 Personen das Tragen von Waffen gestattet. Das waren Privatpersonen, aber auch Mitarbeiter von Wachschutzunternehmen. Parallel dazu, das belegen Studien, wurden 400 000 Waffen illegal in Ecuador angeschafft. Innerhalb von rund zwölf Monaten hat sich die Zahl der Waffen in Ecuador verdreifacht – die Zahl der Morde durch Schusswaffen verdoppelte sich im gleichen Zeitraum.
Fernando Carrión Mena ist Professor an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (Flacso). Eines der Themen, mit dem sich der Architekt und Politologe (Jahrgang 1952) seit Dekaden beschäftigt, ist die Sicherheit – nicht nur im Kontext der Massaker in den Haftanstalten des Landes.
Klingt, als ob Sie von einem weiteren Anstieg der Mordquoten, darunter auch Femizide, ausgehen?
Ich weiß nicht, ob es einen signifikanten Anstieg geben wird. Aber ich weiß, dass alle Indizien in einem vor Waffen strotzenden Land wie den USA darauf hindeuten. Ich denke, dass es wesentlich klüger wäre, die Zahl der zirkulierenden Waffen zu senken, statt sie zu steigern. Warum? Weil Ecuador eine duale Wirtschaft hat: eine formelle und eine informelle. Wenn in der formellen Wirtschaft etwas legalisiert wird wie eben jetzt der Waffenbesitz, zieht der informelle Markt nach – da entsteht eine Spirale.
Wo liegen die Ursachen für den Anstieg der Gewaltdelikte – von Femiziden bis zu brutalen Bandenmorden? Noch vor vier, fünf Jahren galt Ecuador als sicheres, ruhiges Land. Davon kann keine Rede mehr sein.
Zwischen 1980 und 2009 stieg die Zahl der Morde pro 100 000 Einwohner von sechs auf 18. Danach sank die Zahl der Morde auf einen Jahresschnitt von fünf pro 100 000 Einwohner zwischen 2010 und 2017. Seitdem kennt die Mordquote nur eine Richtung: Sie steigt auf ein Niveau von 25 Gewaltopfern pro 100 000 im vergangenen Jahr und in diesem Jahr könnte diese Quote weiter steigen – auf bis zu 35 Morde. Ecuador gehört heute zu den gefährlichsten Ländern der Region.
Worauf führen Sie den sprunghaften Anstieg der Mordquote seit 2018 zurück? Gibt es strukturelle Defizite im Sicherheitsapparat – fehlt es an einem Konzept?
In Ecuador wurde ab 2018 auf ein Konzept des minimalen Staates umgestellt – es wurde abgebaut, zusammengelegt, entlassen. Die staatlichen Strukturen wurden zurückgestutzt, auch der Sicherheitsapparat: 2018 gab es ein Sicherheitsministerium, ein Justizministerium, das für die Haftanstalten verantwortlich war, ein Innenministerium und ein Sekretariat der Politik. Dann wurde all dies zusammengeführt in das Regierungsministerium und man reduzierte den Etat für die Sicherheit. Damals begann der Anstieg der Kriminalität in Ecuador. Hinzu kommt, dass die Kriminalität ihre eigene Dynamik entfaltet, denn Ecuador liegt zwischen den beiden größten Kokain-Produzenten der Welt. Im vergangenen Jahr hat Kolumbien die Erträge um 25 Prozent gesteigert, Peru hat die Produktion verdoppelt. Nun werden etwa 800 Tonnen Kokain pro Jahr über Ecuador weiter in alle Welt geschmuggelt.
Sie haben in einem Interview erklärt, dass es mittlerweile 25 kleine Kartelle sind, die in Ecuador den Markt unter sich aufteilen. Längst wird Kokain in Ecuador produziert. Kommen dabei die Kokablätter aus Kolumbien sowie Peru und werden hier nur weiterverarbeitet?
Ecuador hat nie Koka selbst angebaut, aber Kokablätter wurden ab 1998 in Ecuador zu Kokain weiterverarbeitet – das ist bis heute so und Provinzen wie Esmeraldas, Manabí oder Santa Domingo sind dafür bekannt. Hinzu kommt, dass in Ecuador auch konsumiert wird – wir sprechen über eine Größenordnung von 70 bis 90 Tonnen im Jahr. In Ecuador wird Kokain produziert, konsumiert, es wird Geld gewaschen und im großen Stil geschmuggelt.
Die Gefängnisse haben dabei auch eine Scharnierfunktion. Dort bekriegen, aber koordinieren sich auch die Drogenbanden, richtig?
Ja, derzeit sorgen wieder Massaker in den Haftanstalten für Schlagzeilen, auch wenn sich die Zustände verbessert haben. Es wurden rund 6000 Häftlinge aufgrund ihres Alters und weil sie nur für leichte Straftaten verurteilt waren, entlassen – das hat die Situation hinter Gittern entspannt. Doch das ändert nichts an den Konflikten: Erst vor wenigen Tagen starben zwölf Menschen im Gefängnis EL Litoral nahe Guayaquil, mindestens fünf Gefängniswärter wurden in den vergangenen 14 Tagen ermordet – die Kämpfe zwischen Banden hinter Gittern gehen weiter.
Das sind wiederkehrende Probleme – warum gibt es keine strukturelle Reform?
Gute Frage, aber ein fundiertes Konzept, das Prävention gegen Konsum, Maßnahmen gegen die Geldwäsche, den Schmuggel, die Produktion und mehr umfasst, sehe ich nicht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.