• Politik
  • 75. Jahrestag der Staatsgründung Israels

Israel in schlecher Verfassung

Mit der Justizreform eskaliert der Widerstreit zwischen religiöser und säkularer Ausrichtung

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 5 Min.
Erste Bilder aus Haifa im April 1948, nachdem die Stadt von jüdischen Milizen eingenommen wurde.
Erste Bilder aus Haifa im April 1948, nachdem die Stadt von jüdischen Milizen eingenommen wurde.

Normalerweise ist der offizielle Festakt auf dem Herzl-Berg in Jerusalem eher eine Pflichtübung. Politik, Prominenz, Militärführung und dazwischen ein paar normale Bürger*innen treffen sich zu der sorgsam orchestrierten Veranstaltung; die Fernsehsender übertragen. Das Volk feiert währenddessen auf den Straßen.

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Doch dieses Mal ist alles anders. Dutzende zusätzliche Reporter*innen wurden mobilisiert, sollen rund um die Veranstaltung Stellung beziehen. Und der Grund dafür ist nicht, dass Israel in diesem Jahr 75 wird: Man befürchtet, dass die Regierung die Übertragung unterbrechen lassen könnte und will dafür gewappnet sein. Auch für den Fall, dass die ultrarechte Regierung unter Führung von Regierungschef Benjamin Netanjahu zu starke politische Akzente in der Veranstaltung setzt.

Denn die Proteste gegen die geplante Justizreform, die seit mittlerweile 16 Wochen Israel im Griff haben, überhaupt die Versuche der Rechtsradikalen in der Regierung, das Land komplett umzubauen, überschatten auch die Feiern zum Unabhängigkeitstag. Erst am Samstag protestierten erneut Zehntausende in den Städten. Eine weitere Demonstration wird auch am Dienstagabend erwartet, wenn Jom HaAtzma’ut offiziell beginnt.

Die Menschen ringen mit dem Staat

75 Jahre nach seiner Unabhängigkeit, fast 116 Jahre, nachdem mit dem ersten zionistischen Kongress in Basel die Gründungsphase begann, ringen die Menschen in Israel erneut mit ihrem Staat. Damit was dieser Staat sein soll. Wie man in diesem Staat zusammenleben soll. Religiöse und Säkulare; Linke, Rechte. Jüd*innen, Araber*innen. Der Streit über die Justizreform hat einen lange schwelenden Widerstreit zum Vorschein gebracht: Wenn das Land rechts und religiös wählt, dann habe man auch das Recht auf rechte und religiöse Urteile, argumentieren die Befürworter*innen der Reform. Doch in Israel spielen dabei immer auch der Lebensstil, persönliche Freiheiten eine besondere Rolle. Egal auf welcher Seite man steht: Um selbst die größtmögliche persönliche Freiheit zu haben, müsste man andere einschränken. Religiöse können auf Grund der strikten religiösen Regeln nur überall religiös sein, wenn Säkulare ihre Freiheit einschränken. Siedler*innen können nur nach ihren Vorstellungen leben, wenn die Palästinenser*innen eingeschränkt werden.

Der Widerstreit zwischen religiös und säkular ist der Grund dafür, warum Israel auch 75 Jahre nach seiner Unabhängigkeit keine Verfassung hat. Viele waren ausgezogen, sie zu schreiben. Nie ist jemand erfolgreich zurückgekehrt. Man schaffte es einfach nicht, eine Verfassung auszuhandeln, die niemanden einschränkt, während die einzelnen Bevölkerungsgruppen sich im Laufe der Zeit mit immer weniger Kompromissbereitschaft gegenüberstanden.

Neu ist das alles nicht. Schon in der Gründungsphase wurde sehr intensiv gestritten, so gut wie jedes Modell von irgendjemand durchgespielt: Für manche ähnelte damals das künftige Israel einem kommunistischen Regime. Andere propagierten eine Art Theokratie. Sogar die Gründung eines Königreichs oder die Gründung des Staats in Uganda waren damals im Gespräch. Auf den Straßen im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina war derweil der palästinensisch-israelische Konflikt längst in vollem Gange.

Krieg um die Existenz des Staates

Am 14. Mai 1948 stieg dann Sir Alan Cunningham, der letzte britische Hochkommissar, gegen Mittag ohne viel Tamtam außerhalb von Tel Aviv in ein Flugzeug, während arabische Armeen schon West-Jerusalem belagerten. Alles musste ganz schnell gehen. Zwar hatte es schon seit den 30er Jahren eine Art Parlament und auch eine De-facto-Führung gegeben. Doch die britische Regierung gab erst Anfang 1948 bekannt, dass man das Mandat über die Region westlich des Jordans bereits zum 15. Mai an die Vereinten Nationen zurückgeben werde. Eigentlich sollte das erst im August geschehen: Innerhalb von wenigen Monaten stampfte die Politik des werdenden Israel Regierung, Parlament, Gerichtsbarkeit und Sicherheitsdienste aus dem Boden, stets im Wissen, dass man bald im Krieg um die Existenz dieses Staates sein werde. Man gewann diesen Krieg und schuf damit auch gleichzeitig die Grenzen, die heute von einem Großteil der anderen Staaten als die legitimen Grenzen Israels gesehen werden.

Westjordanland, Gaza, Golanhöhen kamen dann im Sechstagekrieg 1967 hinzu und gelten international als besetzt. Doch in Israel sehen das viele Rechte anders. Die Ideologie dahinter stammt aus den 30er Jahren. Damals traten einige zionistische Vordenker für ein Groß-Israel ein, das Teile Jordaniens, das Westjordanland und Gaza umfassen sollte. Der prominenteste Verfechter dieser als »Revisionismus« bezeichneten Ideologie war der spätere Regierungschef Menachem Begin.

Auch die sich ständig verändernde Gesellschaftsstruktur hat es bis heute verhindert, dass die offenen Fragen geklärt werden konnten. In den ersten Jahrzehnten gab es vor allem Konflikte zwischen der sozialistisch orientierten Arbeitspartei und den liberalen und konservativen Vorgängerparteien des heutigen Likud. Die einen wollten Groß-Israel mit einem Staat, der sich so gut es geht, aus allem raushält. Die anderen wollten die Staatsgrenzen einfach beibehalten und eine starke sozialistische Komponente. Und weil die Bevölkerung in den ersten Jahrzehnten ziemlich homogen war, behielt die Arbeitspartei die Vorherrschaft.

Doch dann kamen ab den frühen 60er Jahren Hunderttausende Einwanderer*innen aus dem Nahen Osten ins Land, die einen eher konservativen Lebensstil pflegten und mit dem osteuropäischen Sozialismus nichts anfangen konnten. Israel veränderte sich radikal. Und tut es seitdem jedes Mal, wenn sich die Herkunft der Einwandernden verändert. Die Ankunft von sehr säkularen Jüd*innen aus der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten war ein weiterer Wendepunkt.

Solange keine Gruppe hingeht, einen Strich unter den Konflikt zieht, sondern letztlich versucht, alle anderen zu dominieren, wird das so bleiben. Die Proteste der vergangenen 16 Wochen sind ein deutliches Signal, dass ein Großteil der Bevölkerung nicht vorhat, das zuzulassen.

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