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Streikrecht : Arbeitskampf bei Gorillas als Präzedenzfall

Landesarbeitsgericht Berlin entscheidet gegen ein erweitertes Streikrecht. Drei ehemalige Gorillas-Beschäftigte hatten versucht, dies zu erwirken.

  • Moritz Aschemeyer
  • Lesedauer: 4 Min.
Dutzende Menschen, Gewerkschafter und ehemalige Gorillas-Beschäftigte protestierten am Dienstag vor dem Landesarbeitsgericht.
Dutzende Menschen, Gewerkschafter und ehemalige Gorillas-Beschäftigte protestierten am Dienstag vor dem Landesarbeitsgericht.

»Ohne unser Recht auf verbandsfreien Streik ist unsere Arbeit nicht mehr als moderne, durch Richterrecht legalisierte Sklaverei«, sagt Duygu Kaya auf einer Kundgebung vor dem Landesarbeitsgericht Berlin zu den etwa 50 Versammelten, darunter Kurierfahrer und Gewerkschafter. Die 34-jährige Kaya ist eine ehemalige Kurierfahrerin des Lebensmittellieferdienstes Gorillas, der mittlerweile vom Konkurrenten Getir übernommen wurde. Nach einem sogenannten wilden Streik gegen die Arbeitsbedingungen bei dem Unternehmen wurde Kaya im Oktober 2021 entlassen. Der Gewerkschaft Verdi zufolge wurden damals insgesamt rund 350 Beschäftigte gekündigt. Zusammen mit zwei ebenfalls entlassenen Kollegen aus Mexiko und Indien ist die gebürtige Türkin rechtlich gegen ihre Kündigungen vorgegangen. 

Nun hat das Landesarbeitsgericht entschieden: Die Kündigungen sind gültig. Auch wurde ein Antrag auf Revision abgelehnt. Was den ehemaligen Beschäftigten noch bleibt, sind Beschwerden gegen die abgelehnte Revision. Weitere Wege führen zum Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

»Es geht auch darum, zu zeigen, wie restriktiv das deutsche Streikrecht weiterhin ist« sagt Benedikt Hopmann, einer der Anwälte der drei Klagenden, vor Entscheidungsverkündung zu »nd«. »Auch besteht eine faschistische Prägung der derzeitigen Rechtsprechung.« Streiks, so die gängige Auffassung der Gerichte, müssen gewerkschaftlich getragen sein und tariflich regelbare Ziele haben. Das Grundgesetz erwähnt zum Thema Koalitionsfreiheit »Vereinigungen« zur »Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen«. Geprägt wurde die restriktive Auslegung durch ein Gutachten von Hans Carl Nipperdey, der von 1954 bis 1963 erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts (BAG) war. Während der Zeit des Nationalsozialismus hatte Nipperdey unter anderem als Kommentator der Arbeitsgesetzgebung gewirkt.

»Das derzeitige Richterrecht kriminalisiert verbandslose Streiks. Für migrantische Arbeitskräfte ist das besonders problematisch, da wir häufig nur temporär hier arbeiten«, sagt Duygu Kaya zu »nd«. Auch die DGB-Gewerkschaften sieht sie in der Verantwortung. Die volatile Situation bei Start-ups halte Gewerkschaften davon ab, dort zu organisieren. Die Logik der Sozialpartnerschaft funktioniere nur auf Basis stabiler Arbeitsverhältnisse, so Kaya. »Das lässt uns prekäre Beschäftigte dort ohne andere Option, als spontan zu streiken, da wir nicht die Ressourcen haben, auf eine langwierige Organisierung eines Betriebs durch Gewerkschaften zu warten.« Die Gewerkschaft Verdi hatte den spontanen Streik damals nicht nachträglich übernommen. 

Auch während der Verhandlung war die Frage der Rechtmäßigkeit des Streiks das dominante Thema. Sowohl die Richterin als auch die Anwältin des Unternehmens stellten auf die gängige Rechtsprechung ab. Hopmann indes betonte neben der historischen auch die völkerrechtliche Dimension in Form der Europäischen Sozialcharta (ESC). In dieser wird das Streikrecht weniger restriktiv ausgelegt als in Deutschland. Hopmann argumentiert, dass in der ESC ein nicht auf Gewerkschaften beschränktes Streikrecht der Arbeitnehmer verankert sei. Dementsprechend hätten auch sogenannte Ad-hoc Koalitionen ein Streikrecht. Auch den politischen Streik sieht Hopmann als legitim, da die Grundlagen der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen gesetzlich geregelt sind. Eine große Bandbreite an Streiks, auch von Gewerkschaften, sei durch die aktuelle Rechtsauffassung ausgeschlossen.

Dass es sich bei den Organisatoren der Streiks bei Gorillas um eine gewerkschaftsähnliche Koalition gehandelt habe, sahen weder die Vorsitzende Richterin Birgitt Pechstein noch die Beklagte. So habe es zwar eine Whatsapp-Gruppe zur Koordinierung der Aktionen gegeben, argumentierte die Anwältin des Unternehmens, an der demokratischen Willensbildung gebe es allerdings Zweifel. Schließlich hätten beispielsweise manche Beschäftigte eventuell nicht in ihre Chatnachrichten geschaut. Durch eine Ausweitung des Streikrechts auf Ad-hoc-Koalitionen sah sie zudem die Gefahr, dass kein ordnungsgemäßer Betrieb mehr möglich sei. 

Hopmann verwies abschließend darauf, dass wegen der besonderen Situation befristet oder über Arbeitsvisa beschäftigter Migranten, die einen Großteil der Gorillas-Kuriere gestellt hätten, eine Organisation von Streiks im Sinne der gängigen Rechtsprechung faktisch unmöglich sei. Auch Duygu Kaya gibt sich weiterhin kämpferisch und will im Zweifel bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.

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