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»Ich mag es hier nicht«

Wie berichteten John Dos Passos, Willy Brandt oder Erika Mannüber die Nürnberger Prozesse? Uwe Neumahr schreibt über»Das Schloss der Schriftsteller«

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie kamen zu Hunderten, kamen in das von zahlreichen Bombenangriffen völlig zerstörte Nürnberg, um über den spektakulären Prozess gegen Hauptverantwortliche des Nazi-Regimes zu berichten. Aus allen Himmelsrichtungen reisten sie an: Schriftsteller, Journalisten, Reporter, Zeichner, Karikaturisten, manche berühmt wie der Amerikaner John Dos Passos, andere noch unbekannt wie Wolfgang Hildesheimer, Willy Brandt oder Markus Wolf.

Man hatte, um sie unterzubringen, das Schloss des Schreibwarenfabrikanten Faber-Castell in der Nähe der Stadt beschlagnahmt, und dort hausten die meisten dicht gedrängt bis zu zehnt in einem Zimmer. Sie schliefen auf Feldbetten, schrieben, telefonierten, tranken und feierten, beköstigt vom ehemaligen Haushaltschef in Hitlers Reichskanzlei; und am nächsten Tag sahen sie im Justizgebäude wieder den Angeklagten ins Gesicht, verfolgten ihre Aussagen und die Berichte der Opfer, sahen KZ-Aufnahmen und die Bilder von Massenerschießungen. Hier, im Press Camp, sagt Uwe Neumahr, wurde seit den späten Novembertagen 1945 buchstäblich Geschichte geschrieben.

Literatur auf der Leipziger Buchmesse
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Noch nie hat jemand so intensiv und kurzweilig jene in den Blick genommen, die damals, konfrontiert mit den Nazi-Gräueln, versuchten, das Unfassbare in Worte zu fassen. Neumahr macht aus seinen Recherchen eine packende Darstellung. Er erzählt von der Atmosphäre in Nürnberg, von den unterschiedlichen politischen Überzeugungen der Autoren, ihrer Jagd nach der exklusiven Geschichte, dem Konkurrenzdruck, von den Allianzen, Animositäten und Rivalitäten, der Hektik und den scharfen Gegensätzen. Zurückgekehrte Emigranten trafen auf Frontberichterstatter, Autoren, die in Deutschland geblieben waren, auf Verfolgte und Inhaftierte des Nazi-Regimes, amerikanische Reporter auf sowjetische Journalisten.

Der Krieg war erst ein paar Monate vorbei, aber schon kündigte sich der neue Ost-West-Konflikt an, spürbar noch bei den nächtlichen Diskussionen, als es, auch dank üppigen Alkoholkonsums, zwischen Vertretern beider Lager, etwa dem »Prawda«-Korrespondenten Boris Polewoi und Angehörigen einer amerikanischen Zeitungsgruppe, ziemlich laut und heftig herging.

Neumahr konzentriert sich nach Überblickskapiteln auf einzelne Schriftsteller und Journalisten, die, mal kurz, mal über einen längeren Zeitraum, das Militärtribunal verfolgten. Der amerikanische Romancier John Dos Passos, entsetzt über das Ausmaß der Zerstörungen in Nürnberg, fühlte sich unbehaglich. »Ich mag es hier nicht«, schrieb er seiner Frau. »Weder uns, die Quadratschädel, noch irgendjemand.« Das Schloss fand er scheußlich, und seinen Landsleuten verzieh er nicht die Politik gegenüber Hitler, Mussolini und Stalin.

Ganz anders Martha Gellhorn, die vier Jahre lang mit Hemingway liierte Starreporterin aus den USA, die wenige Tage nach der Befreiung des Konzentrationslagers in Dachau gewesen war und, zutiefst schockiert, die Verbrechen der Hitler-Diktatur erst in einer Reportage und später in einem Roman voller Hass und Zorn detailliert geschildert hat.

Gnadenlos auch das Urteil Erika Manns über die Deutschen. Sie kam im Offiziersrang der US-Army nach Nürnberg und sprach von einem »garstigen, unseligen Volk«. Nie wieder, erklärte sie, würde sie deutsch sprechen, was ihrem Bruder Golo zu weit und auch Willy Brandt »ein wenig auf die Nerven« ging.

Ausgerechnet sie begegnete im Gerichtsgebäude einem Mann, der einst zu ihren engsten Freunden gehörte: Wilhelm E. Süskind. In den Jahren der Nazi-Herrschaft hatte er als Journalist Karriere gemacht, auch für Goebbels’ Lieblingsblatt »Das Reich« geschrieben und gehörte nun, wie auch Erich Kästner, zu den wenigen zugelassenen Berichterstattern aus Deutschland, die 1933 im Land geblieben waren. Jetzt war er, rasch gewandelt, für die »Süddeutsche Zeitung« in Nürnberg und schon wieder auf dem Weg zu Anerkennung und Einfluss. Erika Mann, unversöhnlich und voller Abscheu, schnitt ihn.

»Worüber können wir mit Leuten dieser Art diskutieren?«, fragte auch ihr jüngerer Bruder Golo, der für den Sender in Frankfurt am Main über den Prozess berichtete. Knapp zehn Jahre danach brachte Süskind es fertig, den verstorbenen Thomas Mann zu würdigen, ohne dessen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus überhaupt zu erwähnen.

Neumahr bietet fakten- und anekdotenreich ein faszinierendes Kapitel Zeitgeschichte und intellektueller Befindlichkeiten. Er beschreibt die nächtlichen Saufrunden im Press Camp genauso wie das Verhalten der Angeklagten und die Reaktionen der Pressevertreter. Die US-Starjournalistin Janet Flanner zog den Unmut des »New Yorker« auf sich, weil sie, beeindruckt von Görings Verteidigung, den amerikanischen Stab der Anklagevertretung als naiv darstellte und daraufhin durch die Britin Rebecca West ersetzt wurde. Willy Brandt, der für ein norwegisches Publikum berichtete, zwang sich angesichts der geschilderten Grausamkeiten zu äußerster Nüchternheit.

Ganz anders Erich Kästner. Er kam nur zum Prozessauftakt, begnügte sich mit »Randnotizen« und rettete sich vor dem Grauen, dem er im Gerichtssaal begegnet war, in schwarzen Humor. Wenig später, nachdem er eine Dokumentation mit Bildern aus den Konzentrationslagern gesehen hatte, bekannte er: »Was in den Lagern geschah, ist so fürchterlich, dass man darüber nicht schweigen darf und nicht sprechen kann.«

Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg ’46. Treffen am Abgrund. C. H. Beck, 304 S., geb., 26 €.

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