Türkei-Wahlen in Berlin: Hoffen auf das Ende der Erdoğan-Zeit

In Berlin können seit Donnerstag türkische Wahlberechtigte ihre Stimme für die Wahlen in der Türkei abgeben

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Schlange zieht sich bis auf den Gehweg: Etwa 50 Menschen warten vor dem Gelände des türkischen Generalkonsulats im Charlottenburger Ortsteil Westend darauf, ihre Stimme abgeben zu können. Vor dem Gebäude wurden Container als Wahllokale aufgebaut, dort stehen noch einmal gut 100 Menschen an. Lange Wartezeiten gibt es nicht, die Stimmabgabe erfolgt schnell und koordiniert. Trotzdem wird die Schlange am Donnerstagmorgen nicht kürzer, denn es treffen immer wieder neue Wähler*innen ein. Die türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen haben begonnen – auch in Berlin.

»Ja, wir sind aufgeregt. Es ist die letzte Chance, die letzte Hoffnung auf Veränderung«, sagt eine junge Wählerin, die zusammen mit einer Gruppe junger Menschen gerade aus dem Wahllokal kommt. Sie hätten gegen das aktuell regierende AKP-Regime gestimmt, »für die Oppositionsparteien natürlich«, sagt Ömer Sonuncu »nd«.

Die Gruppe, die in Deutschland wohnt und zum Teil das erste Mal an den türkischen Wahlen teilnimmt, hat sich direkt am ersten Wahltag in die Schlange am Konsulat eingereiht, danach hat sie Reisepläne. Ob alle in Berlin abgegebenen Stimmen wirklich in der Türkei ankämen, könnten sie nicht mit Sicherheit sagen, aber sie sind zuversichtlich. »Es sind viele Menschen von verschiedenen Parteien hier, um alles zu kontrollieren. Wir hoffen das Beste«, sagt einer aus der Gruppe.

Das hofft auch Gulizar Karagöz am Donnerstagmorgen. Sie ist Kurdin und Mitglied der Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei). Auf deren Listen treten auch die Kandidat*innen der linksgerichteten und prokurdischen HDP an, weil diese aktuell von einem Verbotsverfahren in der Türkei bedroht ist. Die Yeşil Sol Parti stellt dabei keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten, sondern unterstützt den Kandidaten des Oppositionsbündnisses, Kemal Kılıçdaroğlu von der kemalistischen CHP, um die Präsidentschaft Recep Tayyip Erdoğans zu beenden.

»Das Ziel ist es, die Regierung abzuwählen. Es reicht jetzt«, sagt Karagöz. Sie habe keine Sorge, dass die Yeşil Sol Parti in Berlin nicht gut abschneiden werde. Es bleibe aber die Frage, ob die Stimmen in der Türkei auch mitgezählt würden. »Wir werden das alles gut beobachten und kontrollieren. Aber was im Flugzeug passieren wird, das wissen wir nicht.«

Karagöz begleitet die Wahlen im Konsulat von außen, denn ohne türkische Staatsbürgerschaft darf sie weder selbst wählen, noch als Wahlhelferin dabei sein. Stattdessen unterstützt sie ihre Mitstreiter*innen, die schon in den Wahlkabinen bei der Arbeit sind. »Wenn da drinnen etwas schiefgeht, dann wissen unsere Leute, dass wir hier sind, als Unterstützung«, sagt sie. Karagöz ist schon seit sieben Uhr morgens in Charlottenburg. »Wir haben alle zusammen gefrühstückt, für einen guten Start in die Wahlen.«

Außerhalb der Türkei lebende Staatsbürger*innen können noch bis zum 9. Mai ihre Stimme abgeben, in der Türkei selbst findet die Wahl am 14. Mai statt. In Berlin sind knapp 100 000 Menschen wahlberechtigt, zur Wahl 2018 hatte sich etwa die Hälfte davon angemeldet, davon hatte wiederum die Hälfte tatsächlich gewählt. Das Ergebnis: 51,5 Prozent der Wähler*innen stimmten für Erdoğan, nur ein knappes Drittel für den damaligen Gegenkandidaten. Trotz alledem: Der AKP-Chef erhielt damit in Berlin prozentual immer noch weniger Stimmen als in anderen deutschen Städten. Zum Vergleich: In ganz Deutschland erhielt Erdoğan 65 Prozent der Stimmen, weitaus mehr als in der Türkei selbst, wo der Präsident auf 53 Prozent kam.

Die türkische Wähler*innenschaft in Berlin sei traditionell eher links eingestellt, weil vor Jahrzehnten viele kurdische und alevitische Gastarbeiter*innen in die Hauptstadt gezogen seien, sagt Ferat Koçak, der für Die Linke im Abgeordnetenhaus sitzt. »Von diesen haben sich aber viele um die deutsche Staatsbürgerschaft bemüht.« Es würden aber auch immer mehr konservativ eingestellte Türk*innen nach Berlin ziehen. So wähle Berlin zwar immer noch linker als beispielsweise die türkischen Staatsangehörigen in Nordrhein-Westfalen, aber der Rückhalt für die AKP-Regierung sei auch hier nicht gering.

»Wir rechnen bei dieser Wahl in Berlin mit einer Mehrheit für die Opposition mit CHP und Yeşil Sol Parti. Aber die AKP wird auch nicht viel zurückstecken«, sagt Koçak. Der Linke-Politiker prognostiziert eine Wahlbeteiligung von etwa 40 Prozent. Viele jüngere türkische Staatsangehörige wollten sich in Deutschland einleben und interessierten sich nicht für die türkische Politik, sagt er. Wie Karagöz befürchtet auch Koçak, dass auf dem Weg der Berliner Stimmen in die Türkei Möglichkeiten zur Wahlmanipulation gegeben sind.

Laut Umfragen wird ein enges Rennen um die türkische Präsidentschaft erwartet. Gulizar Karagöz hält es für realistisch, dass es endlich einen Regierungswechsel gibt – nach über 20 Jahren Erdoğan-Regime. »Für uns Kurden, für uns Frauen, auch für Aleviten und andere Gruppen in der Türkei ist es eine historische Wahl«, sagt Karagöz. Es ist in diesem Sommer 100 Jahre her, dass der Vertrag von Lausanne nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs die Zerstückelung Kurdistans auf vier Staaten und die Unterdrückung von Kurd*innen im türkischen Nationalstaat festlegte. »Wir haben uns in diesen 100 Jahren stark weiterentwickelt«, sagt Karagöz. Die Kämpfe um die Frauenbefreiung hätten daran einen großen Anteil. »Wir ziehen viel Kraft aus der ›Jin, Jiyan, Azadî‹-Bewegung.«

Diese habe schließlich auch dazu geführt, dass auf den Listen der Yeşil Sol Parti 270 Frauen kandidierten, in 34 Städten stünden Frauen auf dem ersten Listenplatz. »Wir wollen eine große Gruppe an Frauen im Parlament haben. Das ist eine große Hoffnung für mich«, sagt Karagöz. Besonders die kandidierenden Frauen wolle man auch aus Berlin heraus bestmöglich unterstützen.

Die Yeşil Sol Parti und ihre Verbündeten sind in der Hauptstadt gut aufgestellt. Sie haben Wahlkomitees in verschiedenen Teilen Berlins, etwa in Neukölln, Schöneberg und Spandau, und organisieren mit etwa 80 Menschen den Wahlkampf für die wahlberechtigten Berliner*innen. Karagöz selbst ist Vorsitzende des Wahlkomitees in Kreuzberg.

Die Komitees organisieren den Wahlkampf in Berlin: Sie verteilen Flugblätter, hängen Plakate auf, sprechen mit potenziellen Wähler*innen. »Wir wollen alle erreichen, die miterlebt haben, was in den vergangenen 20 Jahren in der Türkei alles passiert ist«, so Karagöz. Zudem bieten sie Fahrdienste an für alle, die wählen gehen wollen, aber nicht mobil genug sind, selbst nach Westend zu fahren – Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen und sehr alte Menschen etwa.

Mitglieder und Unterstützer*innen der Yeşil Sol Parti werden an allen Wahltagen vor dem und im Generalkonsulat sein. Nicht nur, um zu kontrollieren, dass ordentlich mit den abgegebenen Stimmen umgegangen werde, sondern auch, »um für unsere Sicherheit zu sorgen«, sagt Karagöz. Sie hofft auf eine friedliche Wahl. Aber es besteht trotzdem die Sorge, dass es zu Auseinandersetzungen mit AKP-Anhänger*innen kommt.

Schon am Donnerstagmorgen erkennt Karagöz einige AKP-Anhänger*innen unter den Wählenden. »Heute sind vor allem die Menschen hier, die schon lange vorbereitet sind, die in der AKP Mitglied sind«, sagt sie. Allzu viel Energie haben die Wahlkomitees aber nicht auf den Wahlkampf gegen die AKP verwendet. »Wir konzentrieren uns nur auf uns. Wir sind klar in der Mehrheit«, sagt die Vorsitzende des Kreuzberger Wahlkomitees.

Die aktuelle Regierung habe in der Türkei nichts für die Bevölkerung und nichts für das Miteinander getan, sondern nur für die »eigenen Leute«. In jüngster Zeit habe sich die AKP allerdings beunruhigend friedlich verhalten – bis vor ein paar Tagen, als in der Türkei über 100 Künstler*innen und Journalist*innen der HDP verhaftet worden seien. Auch in Berlin greife die AKP mit fragwürdigen Methoden in den Wahlkampf ein und verteile beispielsweise Geschenktüten an Wähler*innen vor dem Konsulat, so berichten sowohl Karagöz als auch Koçak.

Immerhin habe es im bisherigen Berliner Wahlkampf keine Angriffe auf Infostände der Grün-Linken gegeben, sagt Koçak. Solche seien in der Vergangenheit häufig vorgekommen. »Das liegt auch daran, dass viele Künstler*innen und Linke seit 2018 aus der Türkei nach Berlin geflohen sind und den Wahlkampf unterstützen.« Viele von ihnen dürften allerdings nicht wählen, weil sie Asylanträge gestellt hätten.

Oppositionelle fürchteten aber auch hier Repressionen durch die türkische Regierung. So trauten sich Exilant*innen zum Teil nicht, zu den Wahlen zu gehen. »Sie haben Angst, dass sie beim türkischen Konsulat mitgenommen werden«, sagt Karagöz. Auch deshalb sei es wichtig, dass es viele Unterstützer*innen vor Ort gebe. In den nächsten Tagen werden weitere Aktionen der Yeşil Sol Parti stattfinden. An diesem Freitagnachmittag gibt es eine Fahrradtour in Neukölln. »Es ist Zeit, gemeinsam für Demokratie, Menschenrechte, Arbeit und die Freiheit aller Arten sowie für die Natur zu kämpfen«, heißt es im Aufruf hierzu.

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