Arbeitsmärkte im Widerspruch

Knappe Arbeitskräfte trotz Millionen Arbeitssuchender

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Arbeitsmärkte in Deutschland ächzen an allen Ecken und Enden. Ein Beleg dafür sind die hohen Löhne und Lohnnebenkosten für eine Stunde Arbeit. Sie sind in Deutschland über alle Branchen hinweg rund 30 Prozent höher als im Durchschnitt der Europäischen Union. In der Industrie ist das Kostengefälle noch steiler und beträgt 44 Prozent. Das zeigt eine aktuelle Auswertung des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden.

Diese großen Unterschiede bei den – aus Sicht der Unternehmen – Arbeitskosten bleiben nicht ohne Wirkung. Neue arbeitsintensive Industrieansiedlungen für eine preiswerte Massenproduktion gründen deutsche Firmen mit Vorliebe in Niedriglohnländern. Beispiel Wärmepumpe: Für den boomenden deutschen Markt werden Werke in Polen, der Slowakei und Tschechien geplant. Anders sieht es im Bereich der sogenannten Hochtechnologie aus.

Der viel beschworene Mittelstand, darunter unbekannte Weltmarktführer, konkurriert eher mit High-Tech-Unternehmen aus Dänemark, Frankreich oder Österreich. Hier sind die Unterschiede bei den Arbeitskosten allerdings meist gering. So zahlt die deutsche Industrie durchschnittlich 44,00 Euro pro Arbeitsstunde, die französische 42,90 Euro.

Maßgeblich für den Erfolg der stark exportorientierten deutschen Wirtschaft im internationalen Konkurrenzkampf sind daher vornehmlich die Arbeitsproduktivität, die traditionell hoch ist, sowie eine hinreichende Zahl von Fachkräften. Daran mangelt es jedoch zunehmend. Doch ob Industrie, Handwerk, IT oder Pflege: Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften ist hoch.

Neben dem Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben und der Zuwanderung beeinflusst auch die Erwerbsbeteiligung die Zahl der Arbeitskräfte, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Diese ist allerdings in den Altersgruppen von 25 bis 59 Jahren bereits auf einem sehr hohen Niveau: 87 Prozent der Personen in diesen Altersgruppen sind erwerbstätig.

Zwar ließe sich das Arbeitskräfteangebot durch eine stärkere Erwerbsbeteiligung der jüngeren und älteren Altersgruppen sowie von Frauen noch ausweiten, zeigen die Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Doch der demografische Effekt könnte damit nicht komplett ausgeglichen werden.

Im Rückspiegel wird die widersprüchliche Situation auf den Arbeitsmärkten deutlich. Seit 2010 stiegen in Deutschland die Beschäftigtenzahlen an, und die Arbeitslosigkeit sank. Der Einbruch durch die Corona-Lockdowns schien schnell überwunden. »Doch hinter den Gesamtzahlen verbergen sich unterschiedliche Branchen-Entwicklungen«, schreibt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik in ihrem gerade erschienenen, 255 Seiten starken »Memorandum 2023«.

Die Bereiche Öffentlicher Dienst, Gesundheit und Erziehung bauten nach Jahren des Schrumpfens wieder Personal auf; das produzierende Gewerbe schrumpfte dagegen, während die konsumnahen Dienstleistungen stagnierten. Aber das Ausmaß von Unterbeschäftigung und stiller Reserve ist immer noch riesig. Entgegen der These vom allgemeinen Arbeitskräftemangel stehen 1,9 Millionen offenen Stellen fast vier Millionen Arbeitssuchende gegenüber.

Sie finden keine Arbeit, weil sie den Ansprüchen von Unternehmen wegen ihres Alters, ihrer Qualifikation oder ihrer Belastbarkeit nicht entsprechen. Etwa sechs Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluss. 2,33 Millionen Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren haben keinen Berufsabschluss, jeder Sechste in dieser Altersgruppe. Gleichzeitig investierten Unternehmen zu wenig in die Qualifizierung und den Erhalt von Arbeitsvermögen, kritisieren die Alternativ-Ökonomen. Und die öffentliche Arbeitsmarktpolitik habe zu wenig in die Qualifizierung von Arbeitssuchenden investiert und Hartz-IV-Empfänger vorrangig in instabile Jobs vermittelt.

Branchen und Regionen werden zwar unterschiedlich von den aktuellen Umbrüchen betroffen, die Digitalisierung, Energiekosten und die grüne Transformation bewirken. Doch insgesamt werden »segmentierte Arbeitsmärkte« mit einem Nebeneinander von Unterbeschäftigung und Arbeitskräfteknappheit weiter zunehmen, erwartet die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Dem müssen öffentliche Hand und Betriebe entgegensteuern. Dafür haben die Wissenschaftler einen Katalog an Maßnahmen entworfen.

Zum Schluss sind da noch die Löhne. Für das von Regierung und Wirtschaft angestrebte Wachstum sind steigende Einkommen der Arbeitnehmer – die ja in Wirklichkeit nicht nehmen, sondern ihre Arbeitskraft geben – wichtig. Die Nominallöhne in Deutschland sind 2022 zwar um 2,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen, wie das Statistische Bundesamt mitteilt. Da sich aber die Verbraucherpreise im selben Zeitraum um 6,9 Prozent erhöhten, sanken die Reallöhne damit um durchschnittlich vier Prozent gegenüber 2021.

Zuvor hatten sich die Löhne nach Abzug der Inflationsrate in den letzten beiden Krisenjahren rückläufig entwickelt. Immerhin lassen die jüngsten Tarifabschlüsse erwarten, dass sich 2023 der Trend umkehrt.

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