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Der falsche Staatsanwalt
Ernst Reuß hat Kriminalfälle aus der Nachkriegszeit gesammelt
Am Ende des Krieges lebten in Berlin etwa 2,6 Millionen Menschen; 28,5 Quadratmeter des Stadtgebietes waren Ruinenfelder, 39 Prozent des Wohnungsbestandes und 35 Prozent der Industrieanlagen total zerstört. Hunger, Elend und Chaos. Am 2. Mai 1945 unterzeichnete der letzte deutsche Kampfkommandant Berlins in Tempelhof die Kapitulationsurkunde für die Reichshauptstadt, nachdem schon am 28. April 1945 der Militärkommandant der Stadt Berlin, Generaloberst Bersarin, mit dem Befehl Nr. 1 bekannt gegeben hatte, dass die gesamte administrative und politische Macht in Berlin auf ihn übertragen wird.
Die sowjetische Besatzungsmacht machte sich nicht nur daran, die Trümmer des »Tausendjährigen Reiches« aufzuräumen und die Versorgung der Berliner Bevölkerung zu sichern, sie organisierte auch Verwaltung, Polizei und Gerichte neu. Seit dem 14. Mai verkehrten wieder die ersten U-Bahnen, am 19. Mai nahm der Magistrat seine Tätigkeit auf. Der überaus notwendige Aufbau der Gerichtsbarkeit war zum 1. Juni abgeschlossen. In der ausgebluteten, ausgehungerten, zerbombten Stadt wurde geplündert, geraubt und gemordet.
Ernst Reuß, promovierter Jurist und freiberuflicher Autor, hat über diese schwierige Nachkriegszeit ein sehr faktenreiches, hervorragend recherchiertes und spannendes Buch geschrieben. Entlang von Kriminalfällen beschreibt er den Neuaufbau der Berliner Justiz und stellt sogleich den Machtkampf zwischen den einstmals Alliierten im Kalten Krieg dar.
Zur bundesdeutschen Realität gehört auch, dass der Bundestag erst 1998 (!) per Gesetz die menschenverachtenden Entscheidungen der faschistischen Terrorjustiz aufhob. Standrechtliche Erschießungen sahen bundesdeutsche Gerichte, so der Autor, noch bis in die 80er Jahre für rechtmäßig an. »Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein«, war eine gängige Formel, ausgesprochen vom damaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Hans Filbinger (CDU) – als Militärrichter selbst an solchen Urteilen beteiligt.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit geschah aber auch Kurioses. Die Siegermacht Sowjetunion führte am 20. Mai 1945 als Zeichen der Stärke die Moskauer Zeit ein, nach der sich alle Arbeiter und Ladeninhaber zu richten hatten. Heißt, die Geschäfte wurden jetzt nicht, wie gewöhnlich, um neun Uhr, sondern bereits um sechs Uhr geöffnet.
Historisch interessant die Ausführungen zu Arthur Kanger, dem ersten neuen Stadtgerichtspräsidenten, später mit Wirkung vom 29. September 1945 durch die Alliierte Kommandantur für drei Monate als Präsident des Kammergerichts in Berlin eingesetzt. Er war kein Jurist, sondern ein Pharmazieprofessor, ein Gerichtschemiker aus dem Baltikum, der auch als Hochschullehrer in Odessa wirkte und somit schon etwas vage mit dem Gerichtswesen zu tun gehabt hatte. Er sprach natürlich Russisch, was der Hauptgrund für seine Ernennung gewesen sein dürfte.
Kanger bemühte sich auch aus der Funktion als Präsident des Kammergerichts heraus um die Schaffung einer universitären Kriminalistik an der Berliner Universität. Bereits am 27. Februar 1946 beantragte der Dekan der Juristischen Fakultät einen Lehrauftrag für Kriminalistik, dessen Bewilligung Rektor Johannes Stroux schon einen Tag später bekannt gab. Zur Jahreswende 1946/47 erhielt er eine Professur mit Lehrauftrag für Kriminalpsychologie und Kriminalistik und wurde so zum Begründer der Kriminalistik an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Die Justiz blieb jedenfalls von Betrügern und Hochstaplern nicht verschont, die das damalige Durcheinander unmittelbar nach dem Krieg für sich zu nutzen wussten. »Außer einem falschen Staatsanwalt hatte das Amtsgericht Berlin-Mitte mit Amtsgerichtsrat Josef Franke auch einen falschen Amtsrichter zu beklagen«, lesen wir. Ein selbstsicheres, glaubwürdiges Auftreten beim Amtsgerichtsdirektor genügte oftmals, um sich als »Jurist« auszuweisen. Der vielfach Vorbestrafte flog auf und wurde wegen Betrugs, Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen, Begünstigung im Amt und Fragebogenfälschung festgenommen. Er war 14-mal vorbestraft und hatte insgesamt circa acht Jahre im Zuchthaus und Gefängnis verbüßt.
Die detailliert geschilderten Nachkriegsverbrechen (zum Beispiel die Fälle des Frauenmörders Willi Kimmritz, der Giftmörderin Elisabeth Kusian oder der Gladow-Bande) wirken heute schon wie Legenden aus fernen Tagen. Einem Taucher gleich steigt Ernst Reuß in Kriminalgeschichte hinab und macht damit den Lesern Zeitgeschehen zugänglich.
Ernst Reuß: Endzeit und Neubeginn. Berliner Nachkriegsgeschichten. Metropol, 282 S., geb., 24 €.
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