Otto Weidt: Bei Judenverfolgung nicht weggesehen

Neue Dauerausstellung im Berliner Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt eröffnet

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 6 Min.
Stiller Held Otto Weidt (l.) auf einem Foto in der neuen Dauerausstellung
Stiller Held Otto Weidt (l.) auf einem Foto in der neuen Dauerausstellung

Es ist ein sehr ernster Anlass, trotzdem spielen Pianistin Gudrun Heinsius und Trompeter Lars Ranch eher fröhliche Musik, darunter eine Instrumentalversion des jiddischen Liedes »Bei mir bistu shein«. Denn was es am späten Mittwochnachmittag im Festsaal des Roten Rathauses zu feiern gibt, ist auf jeden Fall ein Anlass zur Freude. Auch für Oliver Friederici (CDU), den neuen Staatssekretär in der Senatskulturverwaltung, ist es »ein sehr erfreuliches Ereignis«. Denn einen Tag zuvor, am 2. Mai, wäre der bereits 1947 gestorbene Bürstenmacher Otto Weidt 140 Jahre alt geworden.

Dieses Datum setzte sich die Gedenkstätte Deutscher Widerstand zum Ziel, um in ihrem Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt eine neue Dauerausstellung zu eröffnen. Das hat geklappt. Das Projekt blieb dabei nicht nur im Zeit-, sondern auch im Kostenrahmen, was ja keine Selbstverständlichkeit ist. Das Museum erzählt einen Aspekt der Verfolgung der Juden in der Nazizeit. Die dunkle Geschichte hat hier aber auch eine helle Seite, denn Weidt und seinen Helfern ist es gelungen, zumindest einige Juden zu retten.

Mitte der 1920er Jahre fast vollständig erblindet, eröffnete Otto Weidt 1939 in Kreuzberg eine Blindenwerkstatt, die Bürsten und Besen fertigte. 1940 zog die Werkstatt in größere Räume im Hinterhof der Rosenthaler Straße 39 in Mitte. Von Anfang an beschäftigte Weidt vor allem Juden, die blind oder sehbehindert waren. Die berühmte Inge Deutschkron war das zwar nicht, trotzdem verdankte auch sie Weidt ihr Leben. Als sie in den 90er Jahren das erste Mal seit der Nazizeit wieder die Rosenthaler Straße 39 betrat, war sie erstaunt, dass die Räume im Prinzip noch genauso aussahen und die Dielen so knarrten wie einst.

Deutschkron sorgte dafür, dass am authentischen Ort ein Museum eingerichtet wurde, das seit 1999 vom Bund finanziert wird und seit 2021 der Gedenkstätte Deutscher Widerstand untersteht. Jeder Besucher schreitet dort auch heute noch über knarrende Dielen. In einem fensterlosen Raum ganz hinten, die Tür durch einen Kleiderschrank verdeckt, versteckten sich 1943 Chaim, Machla, Max und Ruth Horn. Im Oktober wurde die Familie dennoch bei einer Razzia entdeckt und ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Auch Alice Licht und ihre Eltern Käthe und Georg, die sich in einem Lagerraum verbargen, ereilte dieses Schicksal. Doch nicht einmal in solchen Fällen hat Otto Weidt seine Angestellten und ihre Angehörigen im Stich gelassen. Er reiste Alice Licht unter dem Vorwand nach, dem KZ seine Bürsten zum Kauf anzubieten. Tatsächlich wollte er der Frau zur Flucht verhelfen, hinterlegte zu diesem Zweck Zivilkleidung, Geld und Medikamente. Alice Licht gelang die Flucht, allerdings erst viel später, auf dem Todesmarsch.

»Wir wissen bis heute nicht, wie vielen Menschen Otto Weidt das Leben gerettet hat«, sagt Johannes Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße. Seit 2006 die erste Dauerausstellung im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt eingerichtet wurde, ist aber einiges erforscht worden, was damals noch nicht bekannt war. Insbesondere eine 2016 von Robert Kain vorgelegte Dissertation lieferte neue Details, unter anderem zum Vorleben von Otto Weidt. Der spätere Bürstenmacher war im wilhelminischen Kaiserreich Redakteur der Zeitschrift »Der Anarchist«, berichtet Tuchel. 1907 sei Weidt wegen angeblicher Kontakte zu russischen Anarchisten zu einem Monat Haft verurteilt worden. Um 1910 habe er sich vom Anarchismus abgewandt, aber die Denkrichtung habe ihn geprägt und er sei wegen dieser Erfahrungen in seiner Jugend mit den Grundsätzen von Illegalität und Konspiration vertraut gewesen. Das sei ihm dann in der Nazizeit von Vorteil gewesen. Allerdings: »Wie es Otto Weidt geschafft hat, seine Bürsten- und Besenfertigung als kriegs- und wehrwichtig einstufen zu lassen, gehört auch zu den Dingen, die wir bis heute nicht wissen.«

Bekannt ist, dass Weidt die Armbinde eines Blinden anlegte, wenn er zur Gestapo musste. Dabei war seine Sehkraft nach Aussage von Inge Deutschkron nicht vollständig erloschen. Wohl einzigartig ist eine Hilfsaktion, die der Kreis um Otto Weidt auf die Beine stellte, um ins KZ Theresienstadt deportierte Juden zu unterstützen. 150 Pakete gingen dorthin ab. 113 Postkarten mit Danksagungen der Beschenkten sind erhalten geblieben.

Lebensmittel kaufte die Prostituierte Hedwig Porschütz auf dem Schwarzmarkt. Offiziell war sie bei Weidt als Stenotypistin angestellt. 1944 wurde Porschütz erwischt und wegen Kriegswirtschaftsverbrechen und Hehlerei zu anderthalb Jahren Zuchthaus verurteilt, die sie ab November 1944 in einem Arbeitslager verbüßte. Ihr Antrag auf Entschädigung als politisch Verfolgte lehnte die Bundesrepublik 1958 ab. Die peinliche Begründung: Die Unterstützung von verfolgten Juden sei nicht geeignet gewesen, die Naziherrschaft zu unterhöhlen, und deswegen kein Widerstand.

Eine Verurteilung nach der Kriegswirtschaftsverordnung von 1939 gelte bis heute nicht als von vornherein unrechtmäßig. Eine Rehabilitierung könne nur nach Prüfung des Einzelfalls erfolgen, erläutert Tuchel. Für Hedwig Porschütz sei das 2011 geschehen. Da war die Betroffene längst völlig verarmt gestorben.

»Während die meisten Deutschen wegsahen, als ihre jüdischen Nachbarn deportiert wurden, war Otto Weidt bereit, ihnen unter hohem persönlichen Einsatz zu helfen«, würdigt Ministerialdirigentin Stephanie Schulz-Hombach in Vertretung von Bundeskulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne). 260 000 Juden seien im Zweiten Weltkrieg aus Deutschland und Österreich in die Ghettos und Vernichtungslager im Osten gebracht worden. Das sei nicht im Geheimen geschehen, sondern vor aller Augen. »Nur wenige stellten sich dieser Vernichtungspolitik entgegen, und einer davon war Otto Weidt«, sagt Schulz-Hombach.

»Die Geschichte, die man mir noch in der Schule erzählte: ›Wir haben alle nichts gewusst‹, ist nachweislich falsch«, bestätigt Ex-Senatskanzleichef André Schmitz (SPD) in seiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender der Inge-Deutschkron-Stiftung. Was die neue Dauerausstellung betrifft, ist er sich sicher: »Unsere kritische Inge wäre auch sehr zufrieden gewesen.« Es sei alles sehr schön geworden. Direkt im Anschluss an den Festakt im Roten Rathaus kann die neue Dauerausstellung in der Rosenthaler Straße besichtigt werden. Inge Deutschkron war dies nicht mehr vergönnt. Sie ist im vergangenen Jahr im Alter von 99 Jahren verstorben.

Die Ausstellung präsentiert nicht nur neue Erkenntnisse, sie erzählt die Geschichte nun auch mit modernen Medienstationen. Dazu gehört, und das ist Johannes Tuchel besonders wichtig, ein kleiner Dokumentarfilm über die Bürstenfertigung. Wie das geht, zeigt Sabrin, die im Alter von 18 Jahren erblindete. Das Gerät, das sie dafür verwendet, sieht genauso aus wie die Exemplare, die im Museum in der Rosenthaler Straße ausgestellt sind.

Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt, Rosenthaler Straße 39, 1. Hof, linker Aufgang, 10178 Berlin, Mo-Fr 9-18 Uhr, Sa/So 10-18 Uhr, Eintritt frei.

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