- Kultur
- Ausstellung »Brigitte Waldach: History Now«
Im Textnebel
Was ist Pop? Wer war Jesus? Wie umstritten solche Fragen sind, zeigen die zahlreichen Bearbeitungen auf Wikipedia. Brigitte Waldach hat daraus Zeichnungen geschaffen, die derzeit in Berlin zu sehen sind
Ein Geflecht unterschiedlicher Dichte, in dem Wörter und Sätze nur partiell entzifferbar sind. Das Buchstabendickicht wird an vielen Stellen zu einem nicht dechiffrierbaren Palimpsest. Die mehrfach überschriebenen Zeilen sind in diversen Grautönen verfasst und täuschen so Tiefe und Raum vor. Nicht unbedingt im Zentrum der Leinwand, manchmal tiefer, schälen sich jeweils eine oder mehrere menschliche Figuren aus den Buchstaben heraus und ziehen die Blicke der Betrachterinnen und Betrachter erst einmal auf sich.
Diese Interferenz zwischen Figuration und mehrschichtigem Text ist charakteristisch für die großformatigen Zeichnungen des Zyklus »History Now« aus dem Jahr 2016 von Brigitte Waldach. Die in Berlin lebende Künstlerin kann nun diesen, sich in Privatbesitz befindlichen Zyklus zum ersten Mal in ihrer Heimatstadt präsentieren.
Worum geht es hier? Auf acht 190 mal 140 Zentimeter großen Zeichnungen mit Graphit, Gouache und Pigmentstift auf Bütten widmet sich Waldach der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, genauer gesagt: den dort neuralgischen und umstrittenen Themenfeldern. Denn gerade bei zentralen Geschichtsdarstellungen spielen sich auf Wikipedia, wo jeder Nutzer Beiträge selbst verändern und erweitern kann, ideologische Kämpfe ab, wird um Deutungshoheit gerungen. Das führt zu immer neuen Überarbeitungen und Korrekturen sowie hitzigen Debatten auf der Bearbeitungsplattform des Webportals.
Sechs Monate lang beobachtete Waldach Einträge unter anderem zu Christentum, Nationalsozialismus und Terrorismus und registrierte die Textänderungen. Mit Graphit übertrug sie eine subjektive Auswahl von Statements auf Papier und überschrieb sie entsprechend der Korrekturen, wodurch sie die verdichteten Textflächen schuf. Für jedes Blatt wählte sie noch eine zusätzliche Farbe jenseits der Schwarz- und Grautöne, um spezifische Begriffe auf den Blättern hervorzuheben. Der Zeilenfall ist nach beiden Seiten uneinheitlich, sodass der Eindruck von Bewegung entsteht.
Aus dem Textnebel schälen sich dann jeweils eine oder mehrere Figuren heraus. Die Konturen der Körper sind dabei unscharf und flattern regelrecht, da auch sie mit Wörtern und Sätzen überschrieben sind. Auf dem Blatt über das Christentum etwa kristallisiert sich Jesus in einem liturgischen Rot aus dem Nebel der Wortzeichen heraus. Hannah Arendts Konterfei als Repräsentanz für Philosophie und Judentum ist in Blau gezeichnet, während für Adolf Hitler im Profil und mit zu »Deutschem Gruß« erhobenem rechten Arm das Braun naheliegend war. Um ihn herum stechen ebenso in Braun Termini wie »Opfer«, »Holocaust«, »Reichskanzler«, »Heil« oder »Lebensraum« hervor.
Auch die englischsprachige Version von Wikipedia hat Waldach ausgewertet. Weitere Blätter thematisieren das Phänomen des Pop und diesen prägende weibliche Ikonen wie Marilyn Monroe, Madonna und Lady Gaga oder die Rote Armee Fraktion (RAF) und ihre Mitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Ulrike Meinhof.
Franz Kafka hat Waldach, die neben einem Kunst- auch ein Germanistikstudium absolvierte, als Vertreter des Absurden und der Verwandlung in der Literatur gewählt, während Sigmund Freud in ihrer Zeichnung mit den Termini der Psychoanalyse, Hysterie und des Unbewussten behandelt wird. Der Zyklus »History Now« fordert das Publikum in besonderer Weise heraus. Kurator Matthias Flügge betonte in seiner Eröffnungsrede im Hinblick auf das Gesamtwerk von Brigitte Waldach den »hermeneutischen Charakter« ihrer Arbeit, in der es um das »Verstehen der sozialen, künstlerischen, kosmologischen und auch historischen Phänomene« gehe.
Zyklen zu zeichnerisch kaum darstellbaren und komplexen Themen scheinen Brigitte Waldach besonders herauszufordern. So widmete sie Bachs zentralem Werk für das Klavier, den Goldbach-Variationen, 2019/2020 eine Serie aus 32 Blättern. Darin finden sich neben dem Notenwerk Referenzen zu Bachs Lebensstationen, dem genialen Bach-Interpreten Glenn Gould in Toronto sowie zu Thomas Bernhard, der sich im Roman »Untergeher« ausführlich mit der Rezeption des Werks befasst. Aus diesem Zyklus ist in der aktuellen Ausstellung nur das letzte Blatt der »Aria Da Capo« zu sehen, in dem die verschiedenen Variationen als dichte Notenstruktur undurchdringbar vereint sind.
Leicht lässt sich ein Bogen schlagen zur Auseinandersetzung der Künstlerin mit der Internet-Enzyklopädie. Dabei ist Waldachs Kunst sowohl zeichnerische Geschichtsforschung als auch eine Annäherung an hochkomplexe kulturhistorische Fragen.
»Brigitte Waldach: History Now«, bis zum 18. Juni, Galerie Pankow, Berlin. Am 25. Mai um 19 Uhr wird Brigitte Waldach vor Ort mit der Kunstkritikerin Heike Fuhlbrügge sprechen. Zur Finissage am 18. Juni um 16 Uhr wird es eine Führung mit der Künstlerin geben.
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