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EU-Asylkompromiss: Seehofers Erben
Mit dem restriktiven Asylkompromiss will die Europäische Union ihre Krise befrieden und opfert dabei die Rechtsstaatlichkeit
Vor rund 30 Jahren beschlossen CDU/CSU, FDP und SPD im Deutschen Bundestag – unter dem Eindruck eines rassistischen Mobs auf der Straße – den Asylkompromiss, mit dem das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft wurde. »Die Restauration kriecht aus hundert Grüften. Unsere Demokratie ist in Gefahr«, empörte sich damals der Grünen-Abgeordnete Konrad Weiß in der Plenardebatte. Der Asylkompromiss sei »niederschmetternd und unwürdig«. Hunderttausende demonstrierten schließlich für das Asylrecht und die Universalität der Menschenrechte. Aber was damals noch als Zäsur galt, hat sich längst zu einem Normalzustand entwickelt. Aktuell steht ein neuer Asylkompromiss an, nur dieses Mal auf der europäischen Ebene.
Migrationsmanagement in der Krise
Seit Anfang der 1990er Jahr wurde die Kompetenz für das Asyl- und Migrationsrecht schrittweise auf die Europäische Union übertragen, nicht ohne erhebliche Widerstände aus den Mitgliedstaaten. Denn die Frage, wer Zugang zum nationalen Territorium erhält, um Asyl in Anspruch zu nehmen oder nach Arbeit zu suchen, gehört zum Kern des staatlichen Gewaltmonopols. Wie die Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« gezeigt hat, gab es um die Asyl- und Migrationspolitik erhebliche Kämpfe: zwischen den Nationalstaaten und den EU-Institutionen, zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Wirtschaftsunternehmen sowie zwischen klagenden Flüchtlingen und dem grenzpolizeilichen Apparat vor Gerichten. Aus diesen Kämpfen schälten sich unterschiedliche Bausteine heraus, die sich in einem politischen Projekt verknüpften, das verschiedene Interessen und Strategien einbezog: das Migrationsmanagement.
In diesem für längere Zeit hegemonialen Projekt dominierten neoliberale Kräfte und verankerten sich fest in den europäischen Staatsapparaten. Die Idee des Migrationsmanagements war es, im Rahmen der Europäisierung Migration als ökonomischen Faktor für den Arbeitsmarkt zu nutzen und die nationalen Abschottungslogiken zu entkräften. In der Asylpolitik setzte die EU ein umfassendes Regelwerk durch, das für die Flüchtlinge, die Grenzkontrollen überwinden konnten und es nach Europa schafften, in vielerlei Hinsicht liberaler ausgestaltet war als die Asylsysteme der Mitgliedstaaten. Trotz der Grenzschutzagentur Frontex und der strengen Reglementierung durch die Dublin-Verordnungen gab es progressive Spielräume im Migrationsmanagement. Der deutsche Asylkompromiss war durch die europäische Asylgesetzgebung obsolet geworden – eine Entwicklung, mit der sich die nationalen Hardliner nie abgefunden haben.
Das Projekt des Migrationsmanagements befand sich jedoch systematisch in der Krise, denn es basierte auf der Annahme, dass die Flüchtlinge weit entfernt von den europäischen Zentralstaaten abgefangen werden sollten. Damit verbunden war eine doppelte Auslagerung der Migrationskontrollen und Flüchtlingsaufnahmen: Erstens wollten viele EU-Mitgliedstaaten durch Migrationspartnerschaften die Grenzkontrollen in Drittstaaten wie Libyen oder Mauretanien verlegen, zweitens wurden mit dem Dublin-System die Ersteinreisestaaten an den Außengrenzen der EU allein für die Aufnahme von Asylsuchenden verantwortlich. Diese Politik des Wegschiebens erzeugte systematisch rechtsstaatliche Defizite und Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen Europas. Aber erst als die Torwächter der EU wie in Libyen infolge des sogenannten Arabischen Frühlings ab 2011 kollabierten und mehr Menschen Europa auf lebensgefährlichen Wegen erreichen konnten, ist diese Krisenhaftigkeit des Grenzregimes ins Bewusstsein der gesamten EU zurückgekehrt.
Der Pakt gegen Flüchtlinge
Das Migrationsmanagement ist gescheitert. Vor diesem Hintergrund ist die EU-Kommission seit Jahren darum bemüht, ein neues tragfähiges Projekt der Flüchtlingspolitik in Europa zu installieren. Sie wird von der Angst getrieben, die Mitgliedstaaten könnten auf Dauer angelegte Kontrollen an den EU-Binnengrenzen durchführen. Damit wäre ein zentrales Projekt der europäischen Einigung, die grenzenlose Freizügigkeit innerhalb der EU, in Gefahr. Angesichts des Brexits und der europäischen Rechtsstaatlichkeitskrise will die EU um jeden Preis ein weiteres Auseinanderfallen verhindern. Den Preis dafür sollen Flüchtlinge zahlen.
Die EU-Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen hat 2020 eine radikale Asylrechtsverschärfung auf den Weg gebracht, über die aktuell zwischen dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten verhandelt wird. Als Blaupause für die Reform dienen der EU-Türkei-Deal, die Hotspot-Elendslager auf den griechischen Inseln und Instrumente aus dem deutschen Asylkompromiss der 1990er Jahre. Wird dieser europäische Asylkompromiss verabschiedet, dann werden Schutzsuchende, die in Europa ankommen, mit großer Wahrscheinlichkeit systematisch inhaftiert.
Denn der Pakt sieht vor, dass die Staaten an den Außengrenzen sogenannte Screening- und Grenzverfahren durchführen und prüfen, ob die ankommenden Asylsuchenden überhaupt ein Asylverfahren durchlaufen sollen. Sind sie aus angeblichen sicheren Drittstaaten wie der Türkei eingereist oder kommen aus Herkunftsstaaten mit einer geringen Anerkennungsrate, sollen sie kein reguläres Asylverfahren bekommen und abgeschoben werden. Für die wenigen, die Asyl bekommen könnten, ist ein wachsweicher und nicht verpflichtender »Solidaritätsmechanismus« vorgesehen, um sie in der EU zu verteilen. Der Soziologe Zygmunt Bauman schrieb in seinem Buch »Verworfenes Leben«, dass Flüchtlinge in der Moderne wie »menschlicher Abfall« behandelt werden. Wenn die europäischen Innenminister*innen Geflüchtete in Lager einsperren und abschieben, will die EU zu den Flüchtlingen »Abstand gewinnen und Abstand halten«, wie es Bauman ausdrückt. Dieser brutalen Logik folgt der europäische Asylkompromiss.
Dabei ist das geplante neue Asylsystem rechtsstaatlich unhaltbar: Die Schutzsuchenden haben nur noch eingeschränkte Rechtsmittel und können kaum gegen die Restriktionen klagen. Das deutsche Flughafenasylverfahren, ein Teil des Asylkompromisses der 1990er Jahre, durch das eingereiste Asylsuchende im Transit mit eingeschränkten Rechten festgesetzt werden, steht Pate für diese Methoden – und produziert seit Jahrzehnten krasse Fehlentscheidungen, wie zuletzt im Falle eines Iraners und einer Afghanin, die über den Frankfurter Flughafen abgeschoben wurden.
Kanzler Scholz erklärte, durch die Asylrechtsverschärfungen entziehe man denjenigen die Grundlage, »die mit Angst und Ressentiment Politik machen«. Eine solche Politik betreibt aber das gegenteilige Geschäft und spielt autoritären Vorreitern wie Viktor Orbán und der AfD in die Hände. Denn das harte Vorgehen verstärkt die »bürgerliche Kälte« (Adorno) gegenüber den Ausgegrenzten der Gesellschaft, was dazu führt, dass die Brutalität an den Außengrenzen öffentlich hingenommen wird. Damit ist der Nährboden für die weitere Faschisierung gelegt. Die Philosophin Henrike Kohpeiß hat diesen Gedanken Adornos jüngst systematisch rekonstruiert und unter anderem am Beispiel des Sterbens im Mittelmeer gezeigt, wie Ausschlüsse aus der bürgerlichen Gesellschaft in der Flüchtlingspolitik fortwirken. Mindestens die europäische Rechtsstaatlichkeitskrise wird sich jedenfalls durch diesen Asylkompromiss vertiefen.
Abkehr vom Koalitionsvertrag
Noch ist unklar, welches politische Projekt auf das europäische Migrationsmanagement folgen wird. Die Positionen der EU-Mitgliedstaaten sind, seitdem die Flüchtlingspolitik allerorten auf der Agenda gelandet ist, zu verschieden, um sich nachhaltig zu einigen. Die EU agiert chaotisch und betreibt eine instrumentelle Flüchtlingspolitik, die von den inneren Krisenerscheinungen ablenken soll. Die »bürgerliche Kälte« zeigt sich schon jetzt, indem das Leid an den Außengrenzen zur Normalität geworden ist. Die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Menschen steigt seit Anfang 2023 wieder drastisch.
Am 8. und 9. Juni 2023 wird ein Treffen zwischen den EU-Innen- und Justizminister*innen stattfinden, um über den neuen Pakt zu verhandeln. Und wie verhält sich die deutsche Bundesregierung zu den Vorschlägen? Sie hat sich unter Innenministerin Nancy Faeser auf eine restriktive Verhandlungsposition geeinigt und will den Plänen der EU-Kommission weitestgehend zustimmen. Faeser sprach von einem »historischen Momentum«. Ex-Bundesinnenminister Horst Seehofer lobte seine Amtsnachfolgerin für dieses Vorgehen. Tatsächlich verhalten sich SPD, Grüne und FDP wie die willfährigen Erben Seehofers, indem sie Hand an das individuelle Recht auf Asyl legen. Dabei spricht der Koalitionsvertrag der Ampelregierung eine andere Sprache: »Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden. Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.« Diese Maßstäbe gibt die Ampel auf.
In Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta ist explizit das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention verankert. Diese Norm wird alltäglich verletzt, Anspruch und Realität klaffen meilenweit auseinander. Statt eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen in den Kommunen zu finanzieren, behaupten Politiker aus der Ampel-Koalition, es seien keine Mittel da, nur im gleichen Moment ein mit Grenzzäunen ausstaffiertes Abschieberegime zu fordern, das ebenfalls Unsummen an Geld verbrauchen wird. Eine Kritik am europäischen Asylkompromiss heißt, klar zu benennen, welche Normen und Werte durch ihn verloren gehen: im Wesentlichen die Rechtsstaatlichkeit.
Maximilian Pichl ist Vertretungsprofessor für Politische Theoria an der Universität Kassel. Aktuell forscht er zur rechtsstaatlichen Aufarbeitung der Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) und zu den institutionellen Veränderungen in der EU-Migrationspolitik seit dem »Sommer der Migration 2015«.
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