- Politik
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Die türkische Opposition verspricht bei Wahlsieg den Frühling
Wofür Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu genau steht, ist nicht klar. Hauptsache, er gewinnt die Wahl
Ein Meer aus blauen und roten Fahnen füllt den zentralen Versammlungsplatz im Istanbuler Bezirk Maltepe. Während auf dem roten Stoff der weiße Stern neben dem Halbmond prangt, steht auf den blauen Flaggen: »Sana söz« – »Ich versprech’s dir«. Mit diesem kurzen Slogan werben die Oppositionspartei CHP und ihr Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu um Wähler*innenstimmen.
»Ich versprech’s dir, der Frühling wird wiederkommen« ist keine meteorologische Vorhersage, sondern eine Ansage, mit der sich die CHP vor allem an die jüngere Generation richtet. An diejenigen, die am 14. Mai erstmals das türkische Parlament und den Präsidenten wählen dürfen. Die führende Oppositionspartei will das Vertrauen der Menschen wiedergewinnen und kündigt an, die Frustration der letzten Jahre durch mehr Demokratie und Stabilität zu beseitigen. Das Duzen im Wahlkampf soll Nähe zwischen den Politiker*innen und der Bevölkerung schaffen. Es ist Teil einer Strategie, mit der sich die Opposition von aggressiven, drohenden und schreienden AKP-Politikern absetzen will.
Die CHP ist zwar die älteste Partei der Republik Türkei, gegründet vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, doch seit 2002 dominieren die AKP und Recep Tayyip Erdoğan die Politik. Erst seit wenigen Jahren wird die CHP wieder als eine Partei wahrgenommen, die Regierungspotenzial hat: Sie konnte ein Wahlbündnis mit fünf anderen Parteien gründen und ihr Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu einen großen Teil der oppositionellen Parteien hinter sich vereinen. Doch seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten war lange ungewiss. Auch die Bürgermeister von Istanbul und Ankara galten als Kandidaten mit guten Chancen und wurden von Bündnispartnerin Meral Akşener unterstützt. Dass nun Kılıçdaroğlu als Kandidat feststeht, drückt seine Autorität aus, sowohl innerhalb der eigenen Partei als auch im Bündnis der Nation (Millet İttifakkı).
Das wird an diesem Tag auch in Maltepe deutlich. Im Publikum wehen Flaggen der rechtsextremen İyi-Partei, daneben klettert ein junger Mann auf ein Baugerüst, um die Fahne der linken, von vielen Kurd*innen unterstützten Yeşil Sol Parti (Grüne Linkspartei) für alle sichtbar zu machen. Dazwischen haben sich CHP-Anhänger*innen rote Westen ihrer Ortsverbände angezogen. In so gut wie allen Umfragen für die Wahl am 14. Mai liegt Kılıçdaroğlu aktuell wenige Prozentpunkte vor dem amtierenden Präsidenten Erdoğan. Heute wird Kılıçdaroğlu als Hauptredner in Maltepe erwartet.
Doch zunächst betreten andere die Bühne. Die Vorsitzenden der Bündnisparteien halten Reden, auffällig selbstbezogen ist der Auftritt von Meral Akşener, Parteichefin der İyi-Partei. Noch kurz bevor sich das Bündnis Millet İttifakkı auf Kılıçdaroğlu als Kandidaten einigte, zog sie ihre Partei vorübergehend aus dem Bündnis zurück, erhielt jedoch starken Gegenwind von ihrer Basis. In Maltepe fordert sie in der populär gewordenen Reimform eine Stimme für sich und eine Stimme für Kılıçdaroğlu: »Bir oy Meral’a, bir oy Kemal’a.« Die kleinen Bündnispartner lässt sie vollkommen unerwähnt: Als die Vertreter der Deva, Gelecek und Demokrat Partisi auf die Bühne treten, wird das Publikum unaufmerksam. »Sie sollen halt kurz grüßen und dann wieder gehen«, fordert ein Mann.
Als dann endlich Kılıçdaroğlu die Bühne betritt, jubelt die Menge. Seine Versprechen sind so populär wie populistisch: die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, Milliarden Lira an die Bevölkerung umzuverteilen, für demokratische Verhältnisse zu sorgen. Eine ältere Frau bestätigt jeden seiner Sätze seufzend mit »Inşallah« – »So Gott will«. Dann ruft sie ihm motivierend zu: »Yürü Pîro!« – »Vorwärts Pîro!« Das ist der Spitzname, den Kılıçdaroğlu von den Alevit*innen in der Türkei bekommen hat. Er bezeichnet eine ältere, federführende Person, der besonders große und vor allem gute Leistungen zugeschrieben werden. Präsident Erdoğan in einer Wahl zu schlagen, wäre sicherlich eine solche.
Dass er sich in einem seiner vielen Videos, die er in seiner bescheidenen Küche filmt und dann auf Twitter teilt, als Alevit bekannt hat, ist nicht selbstverständlich. Lange galt seine Zugehörigkeit zu dieser Religion und Kultur als potenzielle Angriffsfläche für die islamisch-konservative AKP, und auch in Kılıçdaroğlus eigenem Bündnis sind islamistische Parteien vertreten. Schnell wurde der Clip zu einem der meistgeklickten Beiträge. Er erfuhr breite Unterstützung, und sogar die Regierung ist seither bemüht zu betonen, dass in der Türkei auch der alevitische Glaube akzeptiert werde. Die Kundgebung in Maltepe endet in einer ausgelassenen Festivalstimmung, auf dem Weg zur Metrostation schwenken die Menschen weiterhin ihre Fahnen, der Wahlkampf scheint friedlich zu bleiben. Wofür Kılıçdaroğlu und sein Bündnis stehen? Das kann sich hier jeder selbst aussuchen, denn die Forderungen und Versprechen sind breit. Erst einmal geht es darum, die AKP von der Regierung abzulösen.
Szenenwechsel am Tag darauf: Eine überschaubare Menge hat sich auf einem kleinen Platz in der Stadt Erzurum im Nord-Osten der Türkei versammelt. Auch hier schwenken die Menschen türkische Nationalfahnen in Richtung eines weißen Busses, der auf der Straße vor ihnen geparkt hat. Auf dessen Dach steht der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu und hält gerade eine Rede, als plötzlich faustgroße Steine auf ihn zufliegen. Sofort spannen seine Leibwächter zum Schutz gegen die Wurfgeschosse Schirme auf und drängen ihn dazu, das Dach des Busses zu verlassen. Doch İmamoğlu ruft unbeirrt ins Mikrofon »Erzurum, her şey güzel olacak!« – »Erzurum, alles wird gut!«
Als die Steinwürfe zunehmen, richtet sich der Oppositionspolitiker an die anwesenden Sicherheitskräfte. »Polizisten, ihr schaut hier immer noch zu. Ich werde den Gouverneur, den Polizeichef und den Bürgermeister von Erzurum anzeigen«, kündigt er an. Dann verschwindet er im Inneren des Busses, ein Wasserwerfer sprüht seine Ladung in Richtung der Angreifer und zerstreut die Versammlung. Wenige Minuten später verbreiten sich die Bilder in den sozialen Medien und im türkischen Fernsehen. Seine Parteikollegin und Vorsitzende der CHP Istanbul, Canan Kaftancıoğlu, kündigt an, Bürgermeister İmamoğlu an diesem Abend am Istanbuler Flughafen Sabiha Gökcen in Empfang zu nehmen. Hunderte Oppositionsunterstützer*innen werden ihrem Aufruf folgen und vor der Empfangshalle »Schulter an Schulter gegen den Faschismus« skandieren.
Freude und ausgelassene Stimmung ob des ruhigen Wahlkampfs lassen merklich nach. Nach den Angriffen auf İmamoğlu und sein Publikum erklären Regierungsmitglieder den Oppositionspolitiker selbst zum Provokateur, der, statt auf Wahlkampf nach Erzurum zu fahren, lieber in Istanbul bleiben solle. Dass er sich auf den Posten des Vizepräsidenten von Kılıçdaroglu bewirbt, wird ausgeblendet. Wer solle sich um die Menschen in Istanbul kümmern, wenn genau jetzt ein Erdbeben käme und der Bürgermeister abwesend sei, fragt ein MHP-Abgeordneter im Fernsehen. Zeitgleich hält Präsident Erdoğan seine Wahlkundgebung auf dem Gelände des ehemaligen Atatürk-Flughafens in Istanbul ab, zu der angeblich 1,7 Millionen Menschen gekommen sind – eine unrealistische Zahl.
Dass in der letzten Woche des Wahlkampfs mit harten Bandagen gekämpft wird, interpretieren einige als ein Zeichen dafür, dass die Regierungspartei und ihre Unterstützer*innen eine Niederlage befürchten und bereit seien, die Opposition mit allen Mitteln zu behindern. Nach der Kundgebung in Maltepe drohte der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli öffentlich, die Unterstützer von Kılıçdaroglu hätten lebenslange Haft oder gleich eine Kugel verdient. Die Opposition wiederum reagiert auf solche Provokationen mit einer Gelassenheit, als wäre ihr der Wahlsieg bereits garantiert. Ab dem 15. Mai werde abgerechnet, heißt es immer wieder, und dass sich bis dahin alle ruhig verhalten und auf einen geordneten und demokratischen Regierungswechsel vertrauen sollten. Gleichzeitig verweisen auch CHP-Politiker*innen immer wieder auf vergangene Wahlen, bei denen es zu Stimmenfälschung kam oder die AKP ihre Niederlage nicht akzeptieren wollte, wie bei den Istanbuler Lokalwahlen 2019. Einig sind sich alle darin, dass die Wahlurnen am kommenden Sonntag gut geschützt werden müssen, um erneute Fälschungen zu verhindern.
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