Türkei: Neuer Stil und offene Fragen in künftiger Außenpolitik

Weniger Aggression, mehr Nähe zur EU und einige Konstanten: So könnte die türkische Außenpolitik unter Kılıçdaroğlu aussehen

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 6 Min.

Wie wird sich die Außenpolitik der Türkei verändern, sollte die Opposition bei den Wahlen am Sonntag gewinnen? Diese Frage stellen sich Politiker von Brüssel bis Berlin. Die Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel im Verhältnis zur Türkei ist groß, doch wie realistisch ist das? In den vergangenen 20 Jahren deckte sich die türkische Außenpolitik mit einer Person: Recep Tayyip Erdoğan. Er bestimmte, wohin die Türkei außenpolitisch steuern sollte, im vergangenen Jahrzehnt zunehmend selbstherrlich und allein. Und überdehnte auch den Radius, in dem die Regierung von Ankara aus agierte. So stehen türkische Soldaten seit 2017 auf Militärbasen in Katar und Somalia, mischen mit in Konflikten wie in Libyen, Syrien und Berg-Karabach.

Syrische Geflüchtete in der Türkei

Beobachtern zufolge spielen außenpolitische Themen bei der Wahlentscheidung der Türkinnen und Türken nur eine untergeordnete Rolle. Auf den Menschen lastet vor allem die profunde Wirtschaftskrise und das schwere Erdbeben vom Februar. Das vielleicht einzige außenpolitische Thema, das im Wahlkampf eine gewisse Relevanz besaß, waren die syrischen Geflüchteten in der Türkei.

Eine zunehmend feindselige Stimmung unter der türkischen Bevölkerung gegenüber den rund 3,7 Millionen Syrern im Land wussten sowohl der amtierende Präsident Erdoğan als auch sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu zu instrumentalisieren, um Wähler auf ihre Seite zu ziehen. Damit die Geflüchteten wieder nach Syrien zurückkehren könnten, bräuchte es ein Abkommen mit dem syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad.

Das aus sechs Parteien bestehende Oppositionsbündnis mit dem vielsagenden Namen Bündnis der Nation hat ein 200-seitiges Programm ausgearbeitet, in dem sich die Bündnispartner auf bestimmte Punkte ihrer zukünftigen Politik festgelegt haben. Innenpolitisch liegen die Dinge recht klar: Prioritär sind die Wiederherstellung des Rechtsstaats und die Lösung der Wirtschaftskrise, aber wie sieht es in der Außenpolitik aus?

In der Außen- und Sicherheitspolitik sei es den sechs Bündnispartnern nicht leicht gefallen, sich auf gemeinsame Punkte zu einigen, stellt in einer Analyse Edgar Şar fest, der am deutschen Regierungs-Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) forscht. Angesichts der Breite des Bündnisses, dessen politische Ausrichtung von der Sozialdemokratie über Kemalismus, Nationalismus und Wirtschaftsliberalismus bis zum Islamismus reicht, ist das nicht verwunderlich. Einige Grundprinzipien stehen jedoch fest und vermitteln eine Vorstellung, wie sich die türkische Außenpolitik verändern könnte.

Vor allem soll der durch Erdoğan personifizierte Stil einer Ein-Mann-Außenpolitik durch einen institutionellen Ansatz abgelöst werden, das heißt: Außenminister und sein Ministerium dürfen wieder mitmachen bei der Außenpolitik; statt Springerstiefeln und Konfrontation sollen Diplomatie und multilaterale Abstimmung wieder das Handeln leiten. Bislang ist noch nicht bekannt, wer neuer Außenminister werden könnte. Die Anführer der beiden größten Parteien im Bündnis der Nation – die kemalistische Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) und die nationalistische Gute Partei (İyi Parti) – haben jeweils ehemalige Botschafter als außenpolitische Berater an ihrer Seite, zwei der kleineren Bündnispartner sogar ehemalige Außenminister an ihrer Spitze.

Die gefühlte Eiszeit zwischen Ankara und Europa sowie den USA soll zum Abschmelzen gebracht werden: Das von Kemal Kılıçdaroğlu angeführte Oppositionsbündnis will die Türkei explizit im Westen verankern – ohne jedoch die guten Beziehungen zu Russland und China aufs Spiel zu setzen. Befürchtungen in manchen westeuropäischen Kanzleien oder im Nato-Hauptquartier, dass die Türkei gänzlich ins russische Lager abdriften könnte, sind unbegründet, denn die wirtschaftlichen Verflechtungen mit und Abhängigkeiten von Europa sind fundamental. Aber auch eine Türkei ohne Erdoğan als Präsident würde weiter an einer unabhängigen und selbstbewussten Außenpolitik festhalten. Ein Paradigmenwechsel ist mithin nicht zu erwarten.

Ende militärischer Kraftakte

Was sich ändern soll, ist das forsche, ja aggressive Auftreten auf dem internationalen Parkett und die Überdehnung des außenpolitischen Engagements. Das Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, insbesondere in der Nahost-Region, soll mit Kılıçdaroğlu wieder Gültigkeit erhalten. Militärische Kraftakte wie in Libyen oder Syrien würden demnach ein Ende finden. Dass dies jedoch schnell geschehen könnte, ist kaum zu erwarten, insbesondere nicht im Falle Syriens, wo Erdoğan die Autonomie der Kurden ein Dorn im Auge ist, sodass er militärisch intervenierte. Ob eine neue Regierung in dieser Frage eine andere Haltung einnehmen wird, bleibt fraglich: »Unsere Hauptpriorität wären zentrale Fragen der nationalen Sicherheit, wie zum Beispiel die Terrorbedrohung, die von Syrien und Irak ausgeht«, sagte ein anonymer Vertreter der Opposition gegenüber der Nachrichtenwebseite »Middle East Eye«. Mit »Terrorbedrohung« werden zumeist kurdische Kämpfer etikettiert.

Es wird viel spekuliert zwischen Ankara und Brüssel, ob die Türkei erneut den Versuch einer EU-Mitgliedschaft wagen wolle. Der Wunsch auf türkischer Seite ist da, auch der Wille, die dafür von der EU geforderten Strukturanpassungen und Reformen vorzunehmen. Das hätte Kılıçdaroğlu sogar EU-Diplomaten im April in Ankara versichert, berichtete »Middle East Eye«. Kılıçdaroğlu hatte sich sogar zu dem Versprechen verstiegen, dass Türken zukünftig ohne Visum in die Schengen-Staaten einreisen dürften.

Einfach ist dies alles nicht zu haben, auch in der EU sitzen genug Gegner einer türkischen Mitgliedschaft, und auf dem Weg liegen zwei riesige Stolpersteine: Zypern und das Verhältnis der Türkei zu Griechenland. Die Beziehungen zur Regierung in Athen haben sich zwar entspannt in den letzten Monaten, aber die Gründe für den Konflikt haben tiefreichende Wurzeln. Selbst Oppositionsführer Kılıçdaroğlu drohte Athen 2022 mit dem Einsatz türkischer Truppen in der Ägäis und sprach sich 2021 für die staatliche Unabhängigkeit des von der Türkei besetzten nördlichen Teil Zyperns aus.

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