Türkei: Stichwahl um Präsidentenamt

Beim Wahlkrimi in der Türkei wurden zahlreiche Versuche der Wahlmanipulation dokumentiert

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach 20 Jahren an der Macht muss sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erstmals einer Stichwahl stellen, die am 28. Mai abgehalten wird. Wähler mit türkischem Pass in Deutschland und anderen Ländern würden im Fall einer Stichwahl zwischen dem 20. und 24. Mai ihre Stimme abgeben können. Nach Angaben der Wahlbehörde erhielt Erdoğan 49,51 Prozent der Stimmen, Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu 44,88 Prozent. Auf dem dritten Platz landete der Ultranationalist Sinan Oğan (5,17 Prozent). Das offizielle Ergebnis für die gleichzeitig abgehaltene Parlamentswahl lag bis Redaktionsschluss noch nicht vor.

Die staatliche Rundfunkanstalt TRT veröffentlichte auf ihrer Website vorläufige Ergebnisse. Nach der Auszählung von 99,86 Prozent der abgegebenen Stimmen hätte das von der Erdoğan-Partei AKP angeführte Bündnis demnach 322 Sitze und damit eine Mehrheit im 600 Sitze umfassenden Parlament. Das oppositionelle Bündnis der Nation, angeführt von der Republikanischen Volkspartei (CHP) von Oppositionsführer Kılıçdaroğlu, käme auf 213 Sitze, zusammen mit der linken, prokurdischen HDP auf 274. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, laut Wahlbehörde habe die Wahlbeteiligung im Inland bei vorläufig 88,92 Prozent und im Ausland bei 52,69 gelegen.

Bei der Stichwahl wird entscheidend sein, wie sich die Wählerschaft des Drittplatzierten Oğan verhält. Der politischen Ausrichtung seiner ultranationalistischen Ata-Allianz nach zu urteilen, dürften seine Wähler tendenziell Erdoğan zuneigen. Der 74-jährige Kılıçdaroğlu trat in der Nacht gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechserbündnisses vor die Presse. »Erdoğan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte«, sagte er.

Das Oppositionsbündnis um Kılıçdaroğlu redet sich den Wahlausgang noch schön, zwingt es doch Erdoğan in die Stichwahl. Enttäuscht zeigt sich jedoch die linke Oppositionspartei HDP. Auch wenn die endgültigen Ergebnisse noch nicht feststünden, »ist vollkommen klar, dass wir hinter unseren Zielen zurückliegen«, sagte Co-Parteichef Mithat Sancar am Montag in Istanbul. Bei den Parlamentswahlen war die HDP wegen eines Verbotsverfahrens unter dem Banner der Grünen Linkspartei (YSP) angetreten. Bei den Präsidentenwahlen hatte sie zur Unterstützung von Oppositionsführer Kılıçdaroğlu aufgerufen. Sancar sagte weiter, es solle keine Entschuldigung sein, doch es sei allseits bekannt, dass der Wahlkampf »unter sehr schweren Bedingungen« abgelaufen sei. Das Schließungsverfahren gegen seine Partei sei ein wichtiger Faktor gewesen. »Ebenfalls ein Faktor sind die gegen uns gerichteten Repressionen und systematische und intensive, psychologische Kriegstaktiken gegen unsere Partei«, so Sancar.

Nach der Wahlnacht am Sonntag äußerten Wahlbeobachter Mängel an den Abläufen. Die Türkei erfülle die Prinzipien einer demokratischen Wahl nicht, sagte Frank Schwabe (SPD), Leiter der Wahlbeobachtungsmission des Europarats, am Montag in Ankara. Bei der Stimmauszählung habe es an Transparenz gefehlt, hieß es von der Delegation. Die Wahlbehörde solle klarstellen, wie genau sie Wahlergebnisse veröffentliche. Der Behörde wird unterstellt, unter dem Einfluss der Regierung zu stehen.

Schon vor der Wahl habe es keine gleichen Voraussetzungen gegeben. Die regierende AKP unter Erdoğan habe »ungerechtfertigte Vorteile« gehabt, etwa mit Blick auf die mediale Berichterstattung. Die türkische Regierung kontrolliert weite Teile der Medienlandschaft. Die Opposition habe teilweise unter massivem Druck gestanden. Besorgniserregend sei zudem die niedrige Wahlbeteiligung in den Anfang Februar stark durch Erdbeben zerstörten Regionen. Es habe keine rechtlichen Hindernisse gegeben, aber eine große emotionale Belastung.

Wahlbeobachter aus Deutschland wurden in der Türkei nach Angaben von Linken-Chefin Janine Wissler an ihrem Einsatz gehindert. Einige Beobachter einer Delegation der Linken seien durch bewaffnete Polizisten am Betreten der Wahlbüros gehindert worden, sagte Wissler der Nachrichtenagentur AFP am Sonntag. Die in den kurdisch geprägten Gebieten im Osten des Landes eingesetzten Beobachter aus Deutschland berichteten generell von einer hohen Präsenz bewaffneter Polizisten und Soldaten.

Hakan Taş, Wahlbeobachter im Auftrag der Linken, erklärte, dass nicht nur deutschen, sondern auch türkischen unabhängigen Wahlbeobachtern der Zutritt zu Wahlbüros verweigert worden sei. Polizei und Militär hätten sich dadurch über die Vereinbarung mit der Wahlkommission hinweggesetzt, sagte er telefonisch der Nachrichtenagentur AFP. Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die die Türkei-Wahl mit insgesamt 400 Experten überwachten, seien in den Kurdengebieten kaum vertreten gewesen, fügte Taş hinzu.

Taş berichtete zudem von – vorwiegend durch Anhänger der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP ausgelösten – Auseinandersetzungen in und vor einigen Wahlbüros, die zu vorübergehenden Schließungen geführt hätten, woraufhin »die ohnehin schon sehr langen Schlangen vor den Wahlbüros noch länger wurden«. Die Linken-Delegation war mit 19 Wahlbeobachtern auf Einladung der Grünen Linkspartei vor Ort.

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