Der politische Frühling bleibt aus

Katzenjammer bei der türkischen Opposition nach der Siegesgewissheit vor den Wahlen

  • Svenja Huck, Istanbul
  • Lesedauer: 4 Min.

»Ich bin 20 Jahre alt. Sie haben mir meine ganze Jugend gestohlen, ich bin müde.« Mit diesen Sätzen verabschiedete sich eine junge Schülerin in einem Brief von ihrer Familie und ihren Freund*innen, bevor sie sich am Montag in Istanbul ihr Leben nahm. Es ist der erste Tag nach der Niederlage der Opposition bei den türkischen Parlamentswahlen. Der sogenannte Sechstertisch, das Oppositionsbündnis der CHP, lag knapp 15 Prozentpunkte hinter dem Bündnis der AKP. Doch im Vordergrund stand an diesem Tag vor allem die Präsidentschaftswahl, ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu.

In seiner Kampagne »Der Frühling wird kommen« hatte Kılıçdaroğlu vor allem die jüngere Generation adressiert, ihnen eine demokratische, freiheitliche Zukunft versprochen. Und viele junge Menschen wie diese Schülerin hatten sich seinen Sieg im ersten Wahlgang erhofft. »Ich habe geglaubt, dass Kılıçdaroğlu dieses Land wieder lebenswert machen würde. Aber sie haben ihm alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt.« Eine Erstwählerin, die ihr gesamtes Leben keine andere Regierung als die der AKP und Recep Tayyip Erdoğan erlebt hat und den Druck des Regimes nicht mehr aushielt. »Ich habe mich als Frau nie frei gefühlt, auch wenn meine Familie mich in jeder Hinsicht unterstützt hat, fühlte ich mich nicht frei.« Sie zählt die hohen Kosten auf, die sie für Schulbücher, für einen Psychologen oder nur für den alltäglichen Einkauf ausgeben muss. »Meine Mutter arbeitet, aber wenn sie das Geld spart, das sie bekommt, kann sie sich kein Haus kaufen, bis sie stirbt.«

Dass die Opposition die wirtschaftliche Krise lösen könne, davon ist die Mehrheit der türkischen Bevölkerung scheinbar nicht überzeugt. Kurzfristige finanzielle Unterstützung, wie sie die AKP noch in den vergangenen Wochen in unterschiedlichen Bereichen versprochen hat, sowie der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen 20 Jahre waren wohl die stärkeren Argumente. Dennoch schwindet auch die Basis der AKP, im Vergleich zur Wahl von 2018 verlor die Partei ganze sieben Prozentpunkte. Dass Erdoğan knapp die 50 Prozent der notwendigen Stimmen für einen Erstrundensieg verfehlte und somit in zwei Wochen in die Stichwahl muss, scheint keinen großen Rückschlag für ihn darzustellen. In diese geht er immerhin mit einem Vorsprung von fünf Prozentpunkten und auch die Stimmen des dritten, nun ausgeschiedenen Präsidentschaftskandidaten Sinan Oğan könnte er für sich gewinnen. Dann würde statt des erhofften Frühlingsbeginns der Winter noch eine Weile andauern.

In den vergangenen Wochen führte die Opposition unermüdlich Wahlkampf im ganzen Land, die guten Umfrageergebnisse schürten bereits Siegesgewissheit. Die größte Wählerschaft hatte Kılıçdaroğlu dann in den mehrheitlich kurdischen Provinzen wie Diyarbakir, Dersim oder Sirnak. Gleichzeitig verlor die pro-kurdische Partei Yesil Sol (Grüne Linkspartei), die ein Bündnis aus HDP und anderen linken Parteien darstellt, viele Stimmen im Vergleich zu vergangenen Wahlen. Ob sie auch in der Stichwahl erneut Kılıçdaroğlu unterstützen werden, hängt auch davon ab, für welche Strategie sich die CHP nun entscheidet. Gibt sie den Forderungen des Ultranationalisten Sinan Oğan nach, der nur einen Wahlaufruf für Kılıçdaroğlu machen würde unter der Bedingung, dass dieser keinerlei Zugeständnisse an die HDP macht? Oder setzen sich kritische Stimmen in der Partei durch, die das Anbiedern an Ultranationalisten und Islamisten als einen Fehler sehen?

Während sich die Oppositionsparteien nun über eine Strategie verständigen, wie sie am 28. Mai doch noch das Ruder herumreißen könnten, gibt Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu Durchalteparolen raus. »Wir arbeiten unentwegt, verliert bloß nicht die Hoffnung. Ich bleibe standhaft«, schrieb er am Montagnachmittag auf Twitter. An die Jugend gerichtet fügte er hinzu: »Eure Lebensfreude wurde euch gestohlen. Dabei sollte gerade diese Zeit doch unbeschwert sein. Zwölf Tage bleiben noch, um aus dem dunklen Tunnel hinauszukommen.«

Dass sich in den kommenden zwei Wochen noch über fünf Prozent Wähler*innen überzeugen lassen, gilt als unwahrscheinlich. Nicht aufzugeben bedeutet deshalb vor allem, sich auf die kommenden Monate vorzubereiten, in denen sich das von Rechten stark dominierte Parlament konstituieren und keines der bisherigen Probleme gelöst werden wird. Die Suche nach einer politischen Alternative zur AKP-Regierung ist mit diesen Wahlen nicht abgeschlossen, sondern fängt wohl gerade erst an.

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