Kehrtwende in Chile

Bei der Wahl des chilenischen Verfassungsrats hat die extrem Rechte gesiegt

  • Leonel Yañez Uribe und Ute Löhning
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Ergebnisse der Wahl des Verfassungsrats in Chile sind schwer einzuordnen. Nachdem ab Oktober 2019 ein fortschrittlicher Prozess begann, mit dem breite Teile der Bevölkerung dem Neoliberalismus ein Ende setzen und das Erbe der Diktatur überwinden wollten, bringen die Ergebnisse vom 7. Mai eine Umkehr der Verhältnisse zu Tage.

Klare Gewinnerin ist die extrem rechte Republikanische Partei unter Führung des deutschstämmigen José Antonio Kast. Zusammen mit dem – inzwischen schon als gemäßigt eingestuften – rechten Parteienbündnis der UDI, RN, Evópoli, das den früheren Präsidenten Sebastián Piñera getragen hatte, gegen den sich die Revolte richtete, erreichte die Rechte insgesamt eine erdrückende Zwei-Drittel-Mehrheit. Sie kann alle Vorschläge für Verfassungsartikel annehmen oder ablehnen.

Leonel Yañez Uribe und Ute Löhning
Leonel Yañez Uribe ist Kommunikationswissenschaftler und lehrt an der Universidad de Santiago de Chile. Ute Löhning ist Journalistin und regelmäßig in Lateinamerika.

Das Parteienbündnis der aktuellen linken Regierung von Gabriel Boric aus Frente Amplio und Kommunistischer Partei bleibt unter dem Drittel der Stimmen. Die Christdemokratie und das sozialdemokratische Parteienspektrum rund um die Sozialistische Partei haben keinen einzigen Sitz im Verfassungsrat erzielt. Mehr als jede fünfte Wähler*in gab einen ungültigen Wahlzettel ab. Viele von ihnen sind Linke: Personen, die aber mit der Politik der Regierung Boric unzufrieden sind und daher nicht für deren Parteienbündnis gestimmt haben. Oder die sich nichts versprechen vom Verfassungsprozess 2.0, den Boric ins Leben gerufen hat, nachdem der erste, von der Revolte 2019 inspirierte Anlauf beim Referendum 2022 krachend gescheitert war.

Es steht zu befürchten, dass der neue Verfassungsprozess nun nicht nur eine weichgespülte Variante 2.0 entwirft, sondern ein modernisiertes stramm rechtes Modell. In einer vom Parlament eingesetzten Expert*innenkommission, die in den kommenden Monaten einen neuen Verfassungsvorschlag schreiben soll, finden sich so illustre Persönlichkeiten wie Hernán Larraín: Der frühere Minister für Justiz und Menschenrechte war ein Freund und Unterstützer der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile.

Der nun gewählte Verfassungsrat wird die von den Expert*innen formulierten Paragrafen annehmen oder mit der Expert*innenkommission diskutieren. Paradoxon der Geschichte: Die Republikanische Partei hatte das Abkommen zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung nicht unterstützt. Sie hatte auch den zwölf Leitlinien, die als Grundlage für den Entwurf der neuen Grundrechtecharta gelten sollen, nie zugestimmt. Und sie will ohnehin keine neue Verfassung, denn sie ist zufrieden mit der aktuell gültigen Verfassung. Diese stammt aus der Pinochet-Diktatur und schreibt den »subsidiären Staat« fest, in dem der Markt alles regelt und der Staat nur eingreifen soll, wenn der Markt komplett versagt. Im Dezember soll die Bevölkerung erneut in einem Referendum über die Annahme des neuen Verfassungsvorschlags abstimmen.

Entscheidenden Anteil an dem Wahlsieg der Rechten hat die seit dem Referendum im September 2022 bestehende Wahlpflicht. An der Wahl zum aktuellen Verfassungsrat beteiligten sich etwa doppelt so viele Menschen wie an der Wahl zum Verfassungskonvent 2021. Wie diejenigen abstimmen würden, die zuvor nicht gewählt hatten, war immer unklar. Aktuell hat die Mehrzahl von ihnen extrem rechts gewählt. Hinzu kommen eine starke Entpolitisierung und Politikverdrossenheit der Bevölkerung sowie eine Überrepräsentanz der Eliten im politischen Raum, die ihr Programm zudem auf die Reizthemen Kriminalität, Drogenhandel sowie auf Migration ausrichten.

Zwar könnte das Pendel bei kommenden Wahlen wieder in eine andere Richtung schwingen. Möglich ist aber auch, dass die Pinochet-nahe Rechte noch stärker wird und sich in Chile das Sprichwort bewahrheitet, dass die Geschichte zweimal gelebt wird: einmal als Tragödie und einmal als Farce.

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