»Vice«: Ekel, Ekel, Menetekel

»Vice«, die extrakrasse Beilage der US-Modeindustrie, hat Konkurs angemeldet

  • Maximilian Schäffer
  • Lesedauer: 5 Min.
Die »Vice«-Formel gibt seit jeher vor: Mach dir die Welt zueigen und sie wird deine werden.
Die »Vice«-Formel gibt seit jeher vor: Mach dir die Welt zueigen und sie wird deine werden.

Drogenzombies in Afrika, Abtreibungslager in Nordkorea, Neonaziwikinger in Osteuropa, tätowierte Bandenkiller in El Salvador, Crystal-Meth-Küchen in den Appalachen, Eselficken in Kolumbien – die Welt, wie »Vice« sie propagierte, die Welt der 2000er und 2010er Jahre war, um mit historischem Vokabular zu sprechen: geil abgefuckt. Soziale Fragen wurden dem Durchschnittswestler als »abartige« Kulturphänomene, also als mögliche Trends präsentiert. Der US-Medienkonzern »Vice Media« beantragte letzte Woche das Insolvenzverfahren.

»Bukkake On My Face«
»Vice«, 1.12.2000

Niemand kann nachvollziehbar erklären, wie sich das bereits 1994 in Montreal, Kanada gegründete Printmagazin namens »Voice of Montreal«, ab 1996 dann eben »Vice« (dt. »Laster« oder »Untugend«) als Pimmel-Busen-Kotze-Hochglanzanzeigenblatt finanzierte. In hippen Skateshops und Kunstgalerien lag es kostenlos aus, die beworbenen Klamotten und Applikationen konnten in Deutschland nur schwer gekauft werden, in New York City gab es eigene Shops. Was allerdings Jeder und Jede genüsslich gefressen hatte: Pornografie war jetzt nicht nur als emanzipatorischer Akt zu verstehen, sondern als echtes Fashionstatement. Ein bis heute legendärer Artikel beschäftigte sich mit dem japanischen Fetischbegriff »Bukkake«, der multiple Gesichtsbesamung als, je nachdem, Demütigungs- oder Komplimentierungsritual meint. Spermaflecken als letztes Refugium des Handgemachten – die »Vice« erfand den sogenannten »Hipster« (des 21. Jahrhunderts) zwar nicht, sie trug ihm aber zumindest seine ideologischen Leitplanken an: leerer Hedonismus und dumpfe Selbstbespiegelung.

Shane Smith, Gavin McInnes und Suroosh Alvi bildeten das Gründertriumvirat der rasch ins Internet expandierenden Gegenkultursimulation. Multimedialer Gonzojournalismus auf allen möglichen Kanälen des gerade frisch auf Breitband laufenden Internets 2.0. Streaming machte »Vice« endgültig zum internationalen Lieblingsformat notgeiler Gymnasiasten, die nach den Hausaufgaben beim Staunen über die Wunder einer verkommenen Welt noch etwas über guten Stil und böse Menschen lernen wollten. Die frühen »Vice«-Filmchen waren als harte Reportagen fürs geschichtslose Volk neuartig und unterhaltsam. »Vice« war inzwischen nach Williamsburg in Brooklyn gezogen, da gehörte es hin. Alle drei der schillernden Gründer traten in den berüchtigten Videoreportagen als Chefreporter auf, sie stopften sich die begehrten Explorationsspesen eines Kulturhandelsreisenden, also den Spaß, gerne selbst in die Taschen. Smith und Alvi blieben bis heute im Unternehmen, während McInnes bereits 2007 die Redaktion verließ und als Gründer der postmodern schlagenden Burschenschaft »Proud Boys« zur Ernst-Röhm-Figur der US-amerikanischen Querfront wurde.

»The Vice Guide to Iraq«
»Vice«, 28.2.2007

Nach dem Abgang ihres Chefprovokateurs bewegte sich die Ausrichtung der Inhalte zielstrebig in Richtung linksliberaler Mainstream. So ausgesprochen »unangepasst« wurde der »Vice«-Journalismus, dass er bald nicht nur die mRNA-Vorlage für jeden dummdreisten Abenteuerkanal auf Youtube, sondern auch für das junge öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland bot. »Strg_F« heißt heute beispielswieise das Exhibitionistenformat des »Funk«-Portals von ARD und ZDF, in dem junge Menschen etwas über die Echtheit der Hitlertagebücher, Tiktok-Trends bezüglich ADHS, Dunkelhäutige in der AfD oder die Giftigkeit von Drogenkröten lernen. Konzentrierte Staatsraison zu Schlagwörtern aufgebläht und mit bunten Bildern aufgearbeitet – die Bundesrepublik als demokratischer Abenteuerspielplatz. Gewürzt ist die ganze Soße, bei Original wie Kopie, immer mit einer guten Prise imperialistischen Understatements. Die »Vice«-Formel gibt seit jeher vor: Mach dir die Welt zueigen und sie wird deine werden. Fühl dich gut in deiner kolonialen Perversion. Um Armut ging es nie, außer sie ließ sich begaffen. Um Arbeitswelten ging es nie, außer sie ließen sich ausbeuten. Um Kultur ging es nie, außer sie ließ sich verkaufen.

»Das Outfit, das du dir heute mühsam bei Humana zusammenklaubst, trugen diese Kunststudierenden vor 20 Jahren«
vice.com/de, 16.5.2019

Klar gehörte der positive Einsatz fürs Queere, inklusive Gendersprache, seit jeher zum guten Ton bei »Vice«. Es ging um Kosmetik am System, gerechtes Bumsen für alle bei selbstbewusstem Spaß mit allen möglichen Geschlechtsteilen. Fesselspiele auf dem Lederbock oder glitschige Doppelfaustpenetration, Frau oder Esel, Mann oder Pferd, jeder durfte mitmachen. George W. Bush war abgewählt, Obama rief »Yes, we can!« und selbst Muammar al-Gaddafi konnte sich den Freunden des hundertprozentig biologischen Holzdildos nicht erwehren. »Vice« ging nach Libyen und porträtierte Rebellengruppen, leistete seinen Beitrag zur feministischen Außenpolitik als Annalena Baerbock noch Trampolin sprang. Palästinensertücher waren wieder »in« und zur restlichen Beleibung alles Androgynen gab es passend die Unisexmode von American Apparel in Pastell und höchstens in XL. Die Modemarke und der Medienkonzern waren durch kolossale Werbedeals verbandelt und des gleichen Geistes Kind. Achtsam hergestellt in Kalifornien, mit Wellnessprogramm für die gutaussehenden Deppen im antirassistischen Sweatshop und damals respektablen zwölf Dollar Stundenlohn produzierte »AA«. Welcher schwule Sozialdemokrat konnte da kühn mit dem Kopf schütteln? »American Apparel« ging 2016 pleite.

TV-Sender, Plattenlabel, Filmproduktionsgesellschaft, Designbüro, Anzeigennetzwerk – aus einem Magazin wurde eine ganze eigene Welt, am Laufen gehalten von Leuten, die zumindest in Deutschland nie mehr verdienten als ein Praktikant. Dafür durfte der Studienabbrecher aus Kalifornien in Berlin große Distinktion gewinnen und belieferte den asozialen Mittelstand aus aller Welt mit Existenzsinn in den verlorenen Metropolen: Die blöden Fressen im White Trash Fast Food im verkauften Ostberlin, dazu die Black Lips und die Raveonettes schlecht abgemischt in fleckigen, weißen T-Shirts, eierschalenfarbig aus ökologischer Baumwolle. Die Konzernleitung war darauf bedacht, besondere Partys in den jeweiligen regionalen Redaktionsstuben schmeißen zu lassen. Schließlich sollte auch die weitäugige Schickeria und das verkrampfte Feuilleton wissen, wer der coolste Player im Game war. Gierig saugte die erste Generation des digitalen Nomadentums ihren Ersatz nach Heimat auf. Flüge waren so billig wie nie, Drogen auch. Die Freigabe der Cannabis-Produktion in einigen US-Bundesstaaten könnte als einziger politischer Erfolg einer Dauerkampagne für Drogenabusus verbucht werden.

»Dieser Berliner Lieferfahrer wurde mit NFT-Kunst zum Millionär«
vice.com/de, 4.5.2023

Von umgerechnet 765 Millionen Euro Schulden berichtet die »New York Times«. Wer »Vice« heute kauft, der kauft einen Anachronismus und muss warten. Der Mittelstand hat jetzt andere Sorgen, er stirbt und kauft so wenig wie möglich. Schlechte Zeiten für Werbebeilagen. Es bleibt die Erinnerung an den inhaltlichen Trendsetter der Medienwelt des frühen 21. Jahrhunderts. Der Scheiß von »Vice« begleitet in unzähligen Inkarnationen jedes Gehirn nachhaltig, werbe- und zwangsabgabenfinanziert unweigerlich. Als perfektionierte Idiotie eines Zeitalters ohne sichtbare Politik könnten die Gerüchte aus dem verschworenen Internet, der Laden sei eine CIA-Gründung, sogar den Ekel an sich selbst erklären.

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