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  • Roman »Im Morgen wächst ein Birnbaum«

Auf beiden Stühlen

In »Im Morgen wächst ein Birnbaum« erzählt Fikri Anıl Altıntaş von den Tränen seines Vaters und der Sehnsucht nach der Türkei

  • Isabella Caldart
  • Lesedauer: 4 Min.
Sechs Wochen verbringt der Protagonist Fikri als Kind jedes Jahr in der Türkei, wo im Garten des Sommerhauses »sein« Birnbaum auf ihn wartet.
Sechs Wochen verbringt der Protagonist Fikri als Kind jedes Jahr in der Türkei, wo im Garten des Sommerhauses »sein« Birnbaum auf ihn wartet.

Ein Grund für das Schreiben sei für ihn die Sehnsucht, sagt der Ich-Erzähler, die »Sehnsucht danach, Bücher zu lesen, die die Zwischentöne von Personen wie mir anerkennen und keine Decke darüberlegen mit den Erwartungen von weißen Menschen, die nur einen kleinen Teil meiner Realität greifen können«. Genau so ein Buch ist Fikri Anıl Altıntaş mit »Im Morgen wächst ein Birnbaum« gelungen. Es ist ein Debüt, das man wohl am ehesten als autofiktionalen Roman oder Memoir beschreiben kann, ein Ausdruck ebenjener Zwischentöne.

Altıntaş erzählt vom Aufwachsen in den 90er Jahren als Kind eines türkischen Einwanderers und einer türkischen Einwanderin im hessischen Städtchen Aßlar bei Wetzlar. Es geht ums Leben in Sozialbauten und um einen langsamen ökonomischen Aufstieg, um offenkundigen, aber auch unterschwelligen Rassismus und schließlich um den Umzug fürs Masterstudium nach Berlin (wo der Autor heute noch lebt). Das hört sich erst einmal nach einer konventionellen postmigrantischen Coming-of-Age-Geschichte an. »Im Morgen wächst ein Birnbaum« ist aber vor allem eine Auseinandersetzung mit dem Vater und mit festgefahrenen Männlichkeitsbildern, die der Protagonist zu brechen versucht.

Altıntaş’ Vater floh in den 80er Jahren im Zuge des Militärputsches aus der Türkei. »Dem gebrochenen Deutsch meines Vaters waren zerbrochene Träume gefolgt«, erkennt der Sohn später. Aber auch in Deutschland ist der Vater politisch aktiv, engagiert sich in der SPD und der Gewerkschaft; sein Sohn ist benannt nach dem legendären linken Politiker Fikri Sönmez, der 1985 nach Folter in einem türkischen Gefängnis verstarb. Während Fikris Vater als Türkischlehrer arbeitet, muss die Mutter ihre Träume zurückstecken. Auch sie zog in den 80ern nach Deutschland, geholt von Fikris Großvater, der 1965 als sogenannter Gastarbeiter nach Siegen gekommen war. Statt Flugbegleiterin zu werden und die Welt zu sehen, arbeitet sie als Putzkraft. Der Sohn hilft ihr manchmal dabei.

Wie in vielen migrantischen Familien soll auch bei den Altıntaş' die Bildung den Aufstieg der »zweiten Generation« ermöglichen. Eine große Besonderheit gibt es jedoch: Fikris Eltern achten darauf, mit ihren Kindern zu Hause ausschließlich auf Türkisch zu reden, nicht auf Deutsch. Und so finden sich auch im Roman zahlreiche türkische Sprichwörter, Floskeln und Redewendungen.

Altıntaş’ Alter Ego wächst zwar mit ökonomischen Entbehrungen auf, aber doch verhältnismäßig geborgen zwischen anderen Kindern, die etwa Spanisch oder Rumänisch sprechen; den Rassismus versuchen die Eltern aufzufangen. Jeden Sommer geht es für sechs Wochen mit der Familie in die Türkei, wo »sein« Birnbaum im Garten des Sommerhauses auf Fikri wartet, ein Baum, der ihm zeigen soll, wohin er gehört. Sechs Wochen pro Jahr genügen, »um aus Erzählungen eine Sehnsucht zu machen, die mich ein Leben lang begleiten würde«. Eine Sehnsucht, die immer ein wenig an ihm reißen wird. Denn: »Mein Platz war nicht mehr zwischen den Stühlen, ich saß vielmehr auf beiden.«

Aber nicht nur das Bild der Birnen – samt »seines« Birnbaums und türkischen Sprichwörtern über Birnen – zieht sich durch das Buch, sondern vor allem das der Tränen. »Im Morgen wächst ein Birnbaum« ist keine typische Geschichte über die Abnabelung von einem toxischen Vater. Fikri begreift, dass »mein Vater in der Türkei zum Mann [wurde], und ich musste es mit ihm in Deutschland erst noch werden«. Der Vater macht viele Fehler, orientiert sich an einem bestimmten Ideal von Männlichkeit, es wird zu Hause geschrien und bestraft. Aber der Vater weint auch – er dreht sich weg, damit man seine Tränen nicht sehen kann, aber er weint. Sein Sohn versucht, damit zu brechen, versucht, sich seiner Tränen nicht zu schämen, bemüht sich um mehr Weichheit. Am Ende gelingt es ihm, die patriarchalisch-unnachgiebige Männlichkeit, mit der er sozialisiert wurde, hinter sich zu lassen: »Ich traue mich heute, Tränen zu weinen, die du auch siehst.«

»Im Morgen wächst ein Birnbaum« ist ein Buch der Zwischentöne insofern, als dass es nicht von einer Handlung getrieben ist, sondern vielmehr Dringlichkeit in leisen Reflexionen offenbart. Es ist, wenn man so will, ein introvertierter Text, der am Ende mehr Fragen aufwirft, als er Antworten liefert. Fragen, die sich wohl auch viele andere Angehörige der »zweiten Generation« stellen: »Wie viel von mir selbst bleibt bei meinem Aufstieg? Und bin ich [meinen Eltern] fremd geworden, weil wir nie Fremde in Deutschland sein wollten?« Nahezu unmöglich, darauf eine Antwort zu finden.

Fikri Anıl Altıntaş: Im Morgen wächst ein Birnbaum. btb-Verlag, 176 S., geb., 22 €.

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