- Politik
- Stichwahl in der Türkei
Kein Wandel in Sicht für die Türkei
Recep Tayyip Erdogan wird zum dritten Mal Staatspräsident, verliert aber an Zustimmung
Die Straßen der Istanbuler Innenstadt sind wie leergefegt. Seit 6 Uhr morgens ist der Verkauf von Alkohol verboten, weshalb die normalerweise gut besuchten Bars heute geschlossen sind. Auf einigen Parkbänken am Straßenrand sitzen junge Pärchen und schauen gemeinsam auf den kleinen Bildschirm eines Smartphones. Darauf zu sehen ist die Karte der Türkei, eingeteilt in die einzelnen Provinzen, einige rot eingefärbt, einige mehr in orange. Die jungen Leute wechseln kaum ein Wort miteinander, als sei bereits alles gesagt. Sie sehen vor sich weitere fünf Jahre Präsidentschaft von Recep Tayyip Erdoğan, der gegen 19 Uhr in den Hochrechnungen in Führung gegangen ist. Die Enttäuschung steht ihnen ins Gesicht geschrieben.
Es ist der Sonntagabend Ende Mai, auf den alle Menschen in der Türkei seit zwei Wochen fieberhaft gewartet haben. Die Stichwahl um das Präsidentenamt, in der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu gegen den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angetreten ist – ohne realistische Chancen auf einen Sieg. In den vergangenen zwei Wochen kämpften beide um die Stimmen der Wählerbasis des ausgeschiedenen Kandidaten Sinan Oğan. Dieser stellte sich vergangene Woche dann auf Erdoğans Seite, doch auch ohne Oğans Stimmen hätte Erdoğan wohl das Rennen gewonnen. Kılıçdaroğlu konzentrierte sich im Wahlkampffinale auf das Thema Migration, kündigte die Abschiebung von zehn Millionen Geflüchteten an und buhlte damit auch um Unterstützung von Rechtsextremen. Sein Ton wurde rauer, soziale Themen rückten vollkommen in den Hintergrund.
Dass nun Erdoğan die Wahl gewonnen hat, bedeutet jedoch keineswegs Entwarnung für die in der Türkei lebenden Geflüchteten. Noch in der Nacht von Sonntag auf Montag wurden sie in den sozialen Medien beschuldigt, für die Wahlniederlage der Opposition verantwortlich zu sein. Auch Kılıçdaroğlu ging in seiner ersten Rede am Sonntagabend gleich zu Beginn auf das Thema ein: »Ich habe nicht geschwiegen, als Millionen von Flüchtlingen kamen und euch zu Bürgern zweiter Klasse gemacht haben. Ich hätte nicht zugelassen, dass sie euch benachteiligen, während unsere Kinder arbeitslos sind und versuchen, sich über Wasser zu halten.«
Ohnehin wurde bei der Benennung etwaiger Verantwortlicher für die Wahlniederlage nicht gezögert. Ein minimaler Rückgang der Wahlbeteiligung in den mehrheitlich kurdischen Gebieten wurde in oppositionsnahen Fernsehsendern als Verrat der Kurd*innen kommentiert. Dass hier die Unterstützung für Kılıçdaroğlu jedoch immer noch höher war als beispielsweise in der westlichen Provinz Izmir, spricht eher für die Loyalität der kurdischen Wähler*innen gegenüber Erdoğans Herausforderer. Dies ist umso erstaunlicher vor dem Hintergrund, dass Kılıçdaroğlu in der zweiten Runde des Wahlkampfes sich kaum um die Unterstützung kurdischer Wähler*innen bemühte.
Hatay ist die einzige Provinz, wo in der zweiten Runde die Mehrheit von Kılıçdaroğlu auf Erdoğan überging. Hier wird vor allem eine Rolle gespielt haben, dass einige der dort registrierten Wähler*innen mittlerweile in anderen Regionen des Landes leben und kein zweites Mal zur Stimmabgabe in ihre weitestgehend vom Erdbeben zerstörte Heimat reisten.
Bevor man über die Strategiefehler der Opposition diskutiert, bleibt festzuhalten, dass diese Wahlen nicht unter fairen Bedingungen stattfanden: Allein die Sendezeit im Fernsehen – dem wichtigsten Medium in der Türkei – war für Erdoğan überproportional länger, laufende Gerichtsverfahren gegen führende Oppositionspolitiker*innen und Parteiverbotsanträge zielten seit Jahren darauf ab, die Legitimität der Opposition zu verunglimpfen. Auch die erneute Kandidatur Erdoğans war verfassungswidrig.
Hinzu kommen die vielen Unregelmäßigkeiten am Wahltag selbst: Männer, die für ihre Ehefrauen wählen gingen, Angriffe auf Wahlbeobachter*innen von Oppositionsparteien und Drohungen gegenüber der oppositionsnahen Presse sind keine Kleinigkeiten. Einige meinen, dass Kılıçdaroğlu trotz dieser Umstände immerhin 48 Prozent erreichen konnte, sei als Erfolg zu werten. Doch angesichts der schlechten Wirtschaftslage, der Massenverarmung, der Perspektivlosigkeit der Jugend und der verheerenden Auswirkungen der schweren Erdbeben zu Beginn des Jahres bleibt die Frage, warum die Opposition offenbar keine ausreichend überzeugende Alternative zu den politisch Verantwortlichen darstellen konnte.
Diese Diskussion wird die kommenden Wochen und Monate prägen. Dass der oppositionelle sogenannte Sechser-Tisch, das Bündnis der Nation, viel länger bestehen bleiben wird, ist höchst fraglich. Dieses eklektische Bündnis wurde zusammengehalten durch das Ziel, Erdoğan von der Macht abzulösen, und ist nun gescheitert. Auch die politische Karriere Kılıçdaroğlus wird zur Debatte stehen, einige hatten bereits während seiner Rede am Sonntagabend mit einem Rücktritt vom Parteivorsitz gerechnet. Eine etwaige Entscheidung wird jedoch frühestens auf dem nächsten Parteikongress im Juli getroffen werden.
Dass Erdoğan nun zum dritten Mal Präsident wird, ist vor dem Hintergrund der extrem rechten Zusammensetzung des Parlaments ein herber Rückschlag für die Opposition. Doch insgesamt hat die AKP an Zustimmung verloren, die türkische Rechte ist in viele Fraktionen zerteilt, die miteinander um die Macht konkurrieren. Lösungen für die realen Probleme der Bevölkerung halten sie nicht bereit. Dass sich dennoch eine Mehrheit für diese Parteien entschieden hat, ist weniger ein Erfolg der AKP und ihrer Verbündeten als eine Schwäche der Opposition, die nur mit der Perspektive einer Reformierung des Bestehenden in den Wahlkampf zog.
Nach der »Schicksalswahl«, die über die nahe Zukunft der türkischen Republik in ihrem zweiten Jahrhundert entschieden hat, bleibt nur eine kurze Verschnaufpause. Bereits im kommenden Frühjahr stehen die Lokalwahlen an. Dann wird die AKP versuchen, die 2019 an die Opposition verloren gegangenen Metropolen Istanbul und Ankara zurückzugewinnen. Bei der aktuellen Wahl hat sich dort die Mehrheit für Kılıçdaroğlu entschieden. Viele Menschen sind zufrieden mit der lokalen Politik der CHP-Bürgermeister. Doch seit der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu vergangenes Jahr wegen Beleidigung des Hohen Wahlrats zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, befürchtet man dort die Einsetzung eines Zwangsverwalters.
Die Lokalwahlen bieten vor allem die Chance auf einen progressiven politischen Wandel in der Region, die in den vergangenen Monaten sehr deutlich erfahren hat, dass sowohl CHP als auch AKP keine Perspektive zu bieten haben: die Erdbebenregion Hatay. Dort belegten Parteien aus dem linken Bündnis für Arbeit und Freiheit in einigen Bezirken den zweiten Platz bei der Parlamentswahl, sie sind strukturell gut verankert unter der lokalen Bevölkerung.
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