Angriffe auf Region Belgorod: Kiew will von nichts gewusst haben

Die Ukraine attackiert zum zweiten Mal binnen weniger Tage grenznahe russische Gebiete

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein ausgebrannter Laster gehört zu den kleineren Schäden des ukrainischen Angriffs auf die russische Grenzstadt Schebekino
Ein ausgebrannter Laster gehört zu den kleineren Schäden des ukrainischen Angriffs auf die russische Grenzstadt Schebekino

Die westrussische Region Belgorod liegt unmittelbar an der international anerkannten Grenze zur Ukraine – und wird immer mehr selbst zur Kriegsregion. Am Donnerstag wurden mindestens elf Menschen durch intensiven Beschuss verletzt. Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow behauptete sogar, dass sich die Kleinstadt Schebekino – sie liegt nur wenige Autominuten von der Grenze entfernt – unter »nicht endendem Feuer« ukrainischer Streitkräfte befinde. Die Ukraine habe Mehrfachraketenwerfer vom Typ BM-21 »Grad« eingesetzt. Ein Wohngebäude sei in Flammen aufgegangen. Getroffen worden seien auch die Stadtverwaltung und eine Fabrik.

Neben den Raketenwerfern aus Sowjetzeiten werden in Telegram-Kanälen feindliche Panzer erwähnt, die jenseits der Grenze aufführen. Sogenannte russische Nationalisten kündigten die zweite Phase der »Befreiung« von Belgorod an. Erst vor wenigen Tagen hatte eine ukrainische Gruppe, angeführt von abtrünnigen Russen, in der Region zugeschlagen. Die Kämpfer übernahmen die Kontrolle über drei verschlafene Dörfer und hissten eine ukrainische Flagge, bevor sie zurückgedrängt wurden.

Angriffe Teil des Informationskriegs

Die aktuellen Vorgänge lassen sich schwer bewerten. Die Moskauer Medien berichteten bis zum Donnerstagnachmittag nicht über solche Vorkommnisse. Gewiss ist allerdings: Die Scharmützel sind wie die seltsamen Drohnenattacken auf Moskau Teil eines großangelegten Nervenkriegs, der aus Kiewer Sicht durchaus auch militärischen Wert hat. Solche plötzlichen Nadelstiche auf russischem Territorium zwingen Putins Befehlshaber, die eigenen Verwundbarkeiten neu zu definieren. Der Einschlag von Drohnen in Moskauer Häusern führte dazu, dass Luftabwehrkonzepte aus Tagen des Kalten Krieges aktiviert wurden. Bei Belgorod zeigt sich, dass die Grenzüberwachungskräfte nur unzureichenden Schutz bieten. In jedem Fall muss Russland Kräfte neu gruppieren und zum Schutz des Hinterlandes einsetzen, nicht nur bei Belgorod. Denn solche Kommandooperationen können zu jeder Zeit in vielen Gebieten stattfinden.

Zweitens sind solche Angriffe nützlich im ausgeklügelten Informationskrieg, den die Ukraine sehr geschickt führt. Natürlich erreichen die Nachrichten über solche Überfälle auch die russische Bevölkerung, sähen Zweifel an der Allmacht von Präsident Wladimir Putin und seinen Generalen. Zugleich kompensiert Kiew so Niederlagen wie die bei Bachmut und nährt die Hoffnung auf die schon so lange angekündigte ukrainische Gegenoffensive.

Kiew testet westliche Verbündete

Drittens testet die ukrainische Regierung, wie konsequent westliche Verbündete auf der Einhaltung von Vereinbarungen bestehen. Anfangs lehnten die USA – und in ihrem Schlepptau auch Deutschland – die Lieferung weitreichender Munition für bereits gelieferte Waffensysteme wie HIMARS oder die deutsche Panzerhaubitze ab. Was der Verteidigung vor allem des Luftraumes nutzt, wurde geliefert, bei Offensivwaffen war die Nato zurückhaltender, nicht jedoch konsequent, wie die Lieferung von Marschflugkörpern des Typs »Storm Shadows« mit einer Reichweite bis zu 500 Kilometern aus Großbritannien zeigt. Washington sagt indessen: Falls die Ukraine russisches Territorium angreift, ist Schluss mit Waffenlieferungen. Als Russland nach dem Kommandounternehmen zurückgelassene Humvee-Transporter aus den USA präsentierte, forderte Präsident Joe Biden von seinen Generalen Auskunft darüber, ob sie über die ukrainischen Vorstoßplanungen unterrichtet gewesen waren.

Sie waren es nicht, denn die Ukraine wusste ja angeblich auch nichts darüber. Kiew hat nie zugegeben, russische Dörfer und Städte beschossen oder russische Nachschubzüge zum Entgleisen gebracht zu haben. Dem ukrainischen Präsidenten scheint es abermals gelungen zu sein, die Grenzen des vereinbarten Möglichen zu verschieben. Als die Mehrfachwerfer in der Nacht zum Donnerstag ihre Raketen gestartet hatten, war der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf dem Weg nach Moldau, angeblich ahnungslos. Wie viel Freiraum werden seine Freunde ihm für solche »Belgoroder Operationen« noch geben?

Angriff mit westlichen Waffen?

Solange Kiew seine Sonderoperationen ausreichend kaschiert, können alle westlichen Partner nur verbal Einhalt fordern. Doch es gibt noch mehr zu bedenken. Anders als Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die gerade beim Nato-Außenministertreffen in Oslo tönte, Putin solle das »zynische Spiel« aufgeben, »mit immer neuen Horrorszenarien zu drohen«, hat der US-Präsident – gemeinsam mit seinem Moskauer Kollegen – die Verantwortung über den möglichen globalen Einsatz von Atomwaffen. Ergo: Überzieht Selenskyj, riskiert er womöglich nicht nur die Ausbildung von F-16-Piloten und die Lieferung von entsprechenden Jets durch Nato-Verbündete. Kiew braucht mehr Waffen und vor allem mehr Munition, wenn es seinem Militär demnächst gelingen soll, Russlands Landbrücke zur Krim zu durchtrennen. Nur so ließe sich Putin zu einem Einlenken bewegen, sagen westliche Experten. Kurze, kleine »Partisanenoperationen« jenseits der Grenzen sind dazu kein besonders kluger Beitrag.

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