Blogger Maxim Katz: »Im Moment gibt es in Russland keine Politik«

Der russische Blogger Maxim Katz versucht aus dem Exil Einfluss auf die russische Gesellschaft auszuüben

  • Interview: Jakob Buhre
  • Lesedauer: 9 Min.
Russen im Exil – Blogger Maxim Katz: »Im Moment gibt es in Russland keine Politik«

Herr Katz, hier in Tel Aviv las ich gerade einen Graffiti-Schriftzug: »Ihr könnt euch entscheiden, nicht hinzusehen, aber ihr könnt nicht sagen, ihr hättet es nicht gewusst.« Wie zutreffend ist das für Bürger in Russland?

Interview

Maxim Katz weiß, wie er die Massen erreicht. Sein Youtube-Kanal hat 1,7 Millionen Abonnenten. Täglich veröffentlicht er Videos gegen die russische Regierung. Aber anders als der Moskauer Oppositionspolitiker Ilja Jaschin ist der 38-Jährige aus Russland geflohen und lebt mit seiner Familie in Tel Aviv, nachdem er im Juli 2022 als »ausländischer Agent« registriert worden ist. Katz war für die sozialliberale Partei Jabloko Abgeordneter der Stadtverordnetenversammlung des Moskauer Bezirks Schtschukino und organisierte 2013 den Wahlkampf von Alexej Nawalny für das Moskauer Bürgermeisteramt mit.

Sicherlich gibt es Menschen, die sich entscheiden, »nicht hinzusehen«. Aber die meisten von ihnen tun das, weil sie keinen Einfluss nehmen können. Sie wissen, dass sie, wenn sie protestieren, ein großes Risiko eingehen – für sich, für ihre Familien und für ihren Alltag, an den sie gewöhnt sind. Die Menschen in Russland sind davon überzeugt, dass sie nichts tun können, so wird es ihnen durch die staatliche Propaganda eingebläut, zum Teil aber auch durch Sprecher der Opposition, aus der Ukraine, aus dem Westen.

Sie sehen ein falsches Narrativ auch auf westlicher Seite, in westlichen Medien?

Ja. Und nicht nur in den großen Medien. Wenn man zum Beispiel auf Twitter oder Facebook schreibt: »Lasst uns in Moskau gegen den Krieg demonstrieren«, dann antworten Ihnen Oppositionelle oder diese neue Kaste der Osteuropa-Experten, dass das völlig nutzlos sei, dass das russische Volk kaputt sei.

Doch die russischen Bürger haben eben nicht für eine Invasion in der Ukraine gestimmt.

Es gibt in Russland – das zeigen sogar staatliche Umfragen – etwa 30 Millionen Menschen, die gegen den Krieg sind, das sind 20 Prozent der Bevölkerung. Das ist eine große Anzahl. Aber um diese Menschen davon zu überzeugen, dass sie eine winzige Minderheit sind, werden viele Anstrengungen unternommen. Dabei stehen die Menschen in Russland nicht Schlange beim Einberufungsamt, sie gehen nicht zu Kundgebungen und rufen: »Hurra, wir zerschlagen die Ukraine!«

Fuhren nicht zu Beginn des Krieges Autoparaden mit Z-Flaggen durch die Straßen?

Sehr wenige. Ich habe damals Leser in 20 verschiedenen Städten gebeten, von 1000 Autos in ihrer Stadt die zu zählen, die einen Z-Aufkleber hatten. Das waren ein, zwei oder vier pro Tausend. Vergleichen Sie das einmal mit der Haltung der Ukrainer.

Wie hat sich die Zustimmung zum Krieg in Russland seither verändert?

Das lässt sich nicht herausfinden. Das allgemeine Verhältnis ist mehr oder weniger klar, aber bei Umfragen haben die Leute Angst zu antworten. Sicher ist, dass die große Mehrheit der Russen den Krieg nicht befürwortet. Sie sind vielleicht nicht aktiv dagegen, weil sie in einem diktatorischen Regime leben und Verfolgung fürchten. Aber sie sind ganz sicher nicht für den Krieg.

Sie und andere Oppositionelle kommentieren die Ereignisse in Russland aus dem Ausland. Inwiefern können Sie das Geschehen in Ihrer Heimat beeinflussen?

Youtube, Telegram ... die Art und Weise, wie die modernen Medien funktionieren, ermöglichen einem, hier genau so zu leben wie dort. Die Hälfte meiner Zuschauer kommt aus Russland, es werden auch immer mehr. Insofern habe ich nicht das Gefühl, von der russischen Realität abgekoppelt zu sein.

Das klingt nach wenig Veränderung, doch seit dem 24. Februar hat sich viel geändert. Sie haben ein großes Publikum, ja. Aber Ihr Einfluss?

Wenn wir über politischen Einfluss sprechen – den hat im Moment niemand, denn im Moment gibt es in Russland praktisch keine Politik, alles ist eingefroren, es bewegt sich nichts. Lediglich diejenigen, die mit Putin in einem Raum sitzen, haben Einfluss, Minister zum Beispiel.

Und Einfluss auf die öffentliche Meinung?

Ich denke, die Stimmung beeinflussen wir. Die Leute, die gegen den Krieg sind, sehen unsere Videos, sie merken, dass sie nicht die Einzigen sind. Wir versuchen eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten, was auch ganz banale Äußerungen einschließt: dass man nicht in den Krieg zieht, nicht andere Städte bombardiert. Wenn wir diese Dinge aussprechen und so ein Video nach einem Tag eine Million Aufrufe und 15 000 Kommentare hat, von denen die allermeisten positiv sind, sehen die Menschen, dass sie nicht allein sind. Das ist meiner Meinung nach ein großer Einfluss.

Sie waren in Russland politisch sehr aktiv. Wie schwierig ist es für Sie, nicht mehr im eigenen Land zu sein?

Es ist schwierig, ich habe gewisse Probleme damit. Dort hatte ich ständig zu tun, habe Wahlkampf gemacht, große Projekte geleitet – jetzt bin ich nur noch auf dem Bildschirm aktiv und schreibe Texte. Ich bin jetzt Kolumnist und als solcher populär. Es ist nicht die Rolle, die mir am besten gefällt, aber so ist das Leben nun mal. Ich gehe zum Therapeuten, um klarzukommen.

Sind Sie auch in Russland zum Therapeuten gegangen?

Ja. Dort allerdings, um nicht die ganze Zeit in Angst zu leben – Angst, weil sie jeden Moment an deine Tür klopfen können, um dich mitzunehmen. Egal, ob wir Kandidaten ins Moskauer Stadtparlament bringen wollten, oder in die Versammlungen der Stadtbezirke – es war immer klar, dass wir im Rachen des Krokodils sitzen, das plötzlich zuschnappen kann.

Und was ist heute mit dem Krokodil? Russland hat Sie im letzten Jahr auf eine internationale Fahndungsliste gesetzt.

Ja, das Krokodil klappert mit dem Maul, aber ich bin nicht mehr da. Und es ist offensichtlich, dass mich niemand nach Russland ausliefern wird. Nicht Europa, nicht Israel. Ich reise auch nicht in Länder, die mich ausliefern würden.

Aber inwieweit leben Journalisten wie Sie oder Ihr prominenter Kollege Juri Dud auch im Ausland gefährlich?

Risiken gibt es immer. Aber verglichen mit den Gefahren, mit denen wir in Moskau gelebt haben, ist das hier wie ein Kurort. Ich fühle mich in Israel natürlich viel sicherer.

Welches Verhältnis haben Sie zu Journalisten, die heute für die staatlichen russischen Agenturen arbeiten?

Die Agentur RIA Novosti, zum Beispiel: Das sind für mich keine Journalisten, sondern Propagandisten. Wenn wir uns privat unterhalten würden, würde sich vermutlich zeigen: Entweder ist die Person, die für RIA Novosti arbeitet, wirklich ein fanatischer Regierungsunterstützer, was ich für unwahrscheinlich halte. Wahrscheinlicher ist, dass derjenige sagt: »Ich habe eine Hypothek, brauche mein Gehalt – was sie mich sagen lassen, das sage ich auch. Ich bin kein richtiger Journalist, ich verstehe, dass das alles Blödsinn ist, aber ich bin im Dienst.« Das ist noch so eine sowjetische Angewohnheit, dass die eigenen Aussagen nicht mit dem übereinstimmen müssen, was man denkt.

Wer sind Ihre Informationsquellen in Russland?

Alle möglichen Leute, die mit der Regierung in Verbindung stehen, auch solche in leitenden Positionen. Manche kontaktieren mich anonym, andere treffen sich mit mir. Manchmal wollen sie etwas Bestimmtes mitteilen, allerdings veröffentlichen wir keine Insiderinformationen. Uns hilft das lediglich, um zu verstehen, in welche Richtung wir recherchieren müssen.

Was hören Sie denn von Ihren Quellen: Gibt es Hinweise darauf, dass Putin in seinem Umfeld an Rückhalt verliert?

Nein, alle sagen, dass er fest im Sattel sitzt. Aber was passieren wird, wenn die Ukraine eine Gegenoffensive startet, kann niemand sagen. Und was auch allen Sorge bereitet, sind die Präsidentschaftswahlen. Das ist sehr ernst für Putin persönlich und für das ganze System.

Was bedeutet es denn, wenn der Chef der Wagner-Söldner Jewgeni Prigoschin in Videos immer wieder kritische Töne gegenüber Putin anschlägt?

Das bedeutet, dass man beschlossen hat, Prigoschin abzuservieren. Intern hört man ihm offenbar nicht mehr zu, also verschafft er sich durch solche Videos Gehör.
Die Sache mit Prigoschin deutet aber nicht auf Probleme in Putins engstem Kreis hin – wenngleich es die natürlich geben kann. Die Zeiten sind jetzt für Putin turbulenter, Dinge könnten sich in die falsche Richtung entwickeln. Ich denke, wenn es einen Wandel gibt, wird er abrupt geschehen. So wie die Sowjetunion zusammengebrochen ist: Boom und weg war sie.

Warum hört man im Moment nichts mehr von Oligarchen wie Roman Abramowitsch?

Was sollen die tun? Aufstehen und sagen: »Ich bin gegen Putin«? Putins Eliten mögen nicht wirklich, was vor sich geht. Aber wenn sie sich jetzt gegen Putin wenden ... Die haben Unternehmen, Familien, Angestellte in Russland. Das sind viele potenzielle Geiseln.

Welche Hoffnung setzen Sie auf die jüngere Generation? Diejenigen, die jetzt 12, 20, 25 Jahre alt sind.

Umfragen zeigen, dass die Jüngeren viel vernünftigere Ansichten haben. Sie schauen in Richtung Westen, auf Europa. Sie wollen eine vernünftige Regierung, eine Art normale moderne Demokratie in ihrem Land. Da bin ich optimistisch – nicht heute, aber in etwa 20 Jahren, wenn diese Menschen anfangen, Entscheidungen für das Land zu treffen.

Werden sie nicht durch Propaganda beeinflusst, zum Beispiel in der Schule?

Nein, die neuen Propaganda-Anstrengungen in der Schule sind eher lächerlich, da sehe ich keine Auswirkungen. Die Lehrer wollen das auch alles nicht. In der neu eingeführten Unterrichtseinheit »Gespräche über das Wesentliche« sprechen sie jetzt über historische Figuren wie Iwan Sussanin (russischer Nationalheld aus dem 17. Jahrhundert, der dem späteren Zaren Michail Romanow aus der Patsche half, Anm. d. Red.) ... Nein, die Situation ist sehr weit davon entfernt, dass die Schüler jetzt alle zu kleinen Sturmführern erzogen werden. Außerdem: Die jungen Leute gucken kein Fernsehen, sondern informieren sich im Internet.

Wo es ebenfalls Propaganda-Kanäle gibt.

Der Einfluss im Netz ist aber viel geringer, denn dort existiert ein Wettbewerb der Ideen. Im Gegensatz zum russischen Fernsehen, wo es nur ein Monopol gibt.

In Russland wurden in den letzten Monaten viele repressive Gesetze erlassen. Wie erklären Sie, dass die Duma diese immer wieder einstimmig verabschiedet hat?

Die Duma ist halt kein echtes Parlament, es sitzt dort keine einzige Person, die unabhängig ist.

Ist das so einfach zu erklären?

Ja. Das sind keine echten Abgeordneten. Menschen, die in europäischen, westlichen Demokratien leben, denken, dass ein Abgeordneter eine eigene Meinung und Position hat, auch wenn er einer bestimmten Partei angehört. Das ist hier nicht der Fall, sondern in die Duma kommen nur »Knöpfchendrücker«: Leute, die bei den Abstimmungen den richtigen Knopf drücken. Das ist ihre einzige Aufgabe.

Sie stimmen für Gesetze, von denen sie wissen, dass sie die Bevölkerung schikanieren werden.

Ja, aber sie glauben nicht, dass sie dort irgendetwas bestimmen können. Ich entschuldige dieses Verhalten nicht, ich erkläre Ihnen nur den Mechanismus.

2012 kandidierten Sie für ein Moskauer Bezirksparlament. Würden Sie in Zukunft, wenn die politische Lage es zulässt, wieder bei Wahlen in Russland antreten?

Ja. Mein Ziel ist es, zum Bürgermeister von Moskau gewählt zu werden. Wobei mir im Moment wichtiger erscheint, eine liberale Partei in Russland zu gründen, dazu habe ich auch Möglichkeiten. Diese wird etwas bewirken, sie wird groß und gut sein.

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