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»Lina E.«-Demo: Elf Stunden im Polizeikessel
Umstrittener Einsatz in Leipzig und massive Beschränkung von Grundrechten wird Sachsens Landtag beschäftigen
Die »Polizeikessel-Charts« sind keine offizielle Statistik. Die Liste der Gelegenheiten, bei denen die Polizei in der Bundesrepublik eine besonders große Menge an Demonstrationsteilnehmern über rekordträchtig lange Zeit festsetzte, ist also lückenhaft. 1994 bei einem EU-Gipfel traf es einmal 918 Menschen. In einem Kessel bei einer Demonstration von »Blockupy« 2013 in Frankfurt (Main) wurden gar 943 Menschen festgehalten. Ein Teilnehmer, der später beim Bundesverfassungsgericht erfolglos gegen die Maßnahme klagte, war erst nach knapp fünf Stunden aus der Einkesselung freigekommen.
Der Kessel, in dem am Samstag in Leipzig viele Teilnehmer einer geplanten Demonstration für Versammlungsfreiheit festgesetzt wurden, muss in der fragwürdigen Rekordliste weiter oben einsortiert werden. Das gilt sowohl für die Zahl der Betroffenen – die Polizei spricht von »knapp über 1000 Identitätsfeststellungen«, die man wegen des Verdachts des schweren Landfriedensbruchs durchgeführt habe – als auch für die Dauer: Die Maßnahme begann kurz nach 18 Uhr am Samstag und endete nach knapp elf Stunden gegen fünf Uhr am Sonntagmorgen. Dazwischen lagen »Stunden der Schikane«, wie ein Beobachter formuliert. Die Eingeschlossenen, darunter viele Minderjährige, denen jeder Kontakt zu ihren Eltern verwehrt wurde, mussten stundenlang ohne Trinkwasser und Essen ausharren; ihre Notdurft sollten sie im Gebüsch eines Parks verrichten. Auch Decken gab es nicht, obwohl viele Teilnehmer sommerlich bekleidet waren und die Temperaturen auf zehn Grad fielen. Selbst »politische Äußerungen« wurden für unzulässig erklärt.
Der Leipziger Kessel ist der fragwürdigste Aspekt eines Polizeieinsatzes, der den sächsischen Landtag beschäftigen wird. Die Linke beantragte am Montag eine Sondersitzung des Innenausschusses, die aber frühestens kommende Woche stattfinden kann. Auch Grüne und SPD, die gemeinsam mit der CDU im Freistaat regieren, kündigten kritische Nachfragen an Innenminister Armin Schuster (CDU) und die Polizeiführung an.
Ausgangspunkt für den Polizeieinsatz mit rund 3000 Beamten war »Tag X«. Unter diesem Motto hatte die linke Szene nach Leipzig mobilisiert, um nach dem am Mittwoch gesprochenen Urteil im »Antifa Ost«-Verfahren ihre Solidarität mit der zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilten Antifaschistin Lina E. und ihren drei Mitstreitern zum Ausdruck zu bringen. Dabei wurde teilweise auch zu Gewalt aufgerufen. Die Stadt untersagte daher eine Demonstration; ihr Verbot bestätigten Gerichte. Auch die aus Protest dagegen angemeldete Demonstration für Versammlungsfreiheit wurde zunächst nur als stationäre Kundgebung erlaubt und dann unter Hinweis darauf, dass Steine, Flaschen, Pyrotechnik und ein Molotowcocktail geflogen seien, eingekesselt.
Für Kritik sorgt zum einen die drastische Beschränkung des Versammlungsrechts in der Stadt. Minister Schuster hatte zur Begründung gesagt, man wolle »kein Leipzig, wo Versammlungen als Gelegenheit für Gewalt und Zerstörung genutzt werden«. Das Bündnis »Leipzig nimmt Platz« kritisierte dagegen, in der bloßen Annahme, es könne zu Gewalt kommen, seien »elementare Grundrechte der Demokratie faktisch ausgesetzt« worden. Der linke Landtagsabgeordnete Marco Böhme merkte an, ausgerechnet eine Stadt, die sich unter Verweis auf 1989 gern mit Bürgerrechten schmücke, sei zur »grundrechtsfreien Zone« erklärt worden. Valentin Lippmann, Innenexperte der Grünen im Landtag, stellte fest, Leipzig habe die Versammlungsfreiheit »durch eine Kombination aus Allgemeinverfügung, Versammlungsverboten, einem Kontrollbereich und konkreten Beschränkungen faktisch entkernt«.
Für Empörung sorgt darüber hinaus der Polizeieinsatz, mit dem die Beschränkungen durchgesetzt wurden. Leipzigs Polizeipräsident René Demmler begründete das Auftreten inklusive Wasserwerfer und Räumpanzer im Interview der »Leipziger Volkszeitung« mit der Einschätzung: »Stärke zu zeigen, kann auch deeskalierend wirken.« Allerdings gibt es Zweifel daran, dass die Polizei die Lage tatsächlich beruhigen wollte. So wird der Innenminister mit dem Satz zitiert: »Wer reinschlägt, wird die Antwort bekommen.« Der Verein »Say it loud«, Veranstalter der gekesselten Demonstration, ist überzeugt, der Einsatz sei von vornherein darauf ausgelegt gewesen, »dass der Staat seine Macht zeigt«. Die Leipziger Jusos sprachen von »Willkür und Härte« und distanzierten sich von SPD-Oberbürgermeister Burkhard Jung, der die Polizei gelobt hatte. Der SPD-Landtagsabgeordnete Albrecht Pallas warf dieser eine »provozierende Herangehensweise« vor. Ihre starke Präsenz und heftige Reaktion auf Kleinigkeiten hätten eine »eskalierende Wirkung« gehabt.
Mancher vermutet, dass es Sicherheitsbehörden und konservativen Politikern ohnehin um mehr ging als ein gewaltfreies Wochenende in Leipzig. Das »amtliche Schmierentheater«, wetterte der Verein »Say it loud«, sei »darauf ausgerichtet, die Zahl vermeintlich linker Straftaten in die Höhe zu treiben und das gesellschaftliche Zerrbild der Gefahr von links zu verschärfen«. Passend dazu forderte Innenminister Schuster ein sächsisches Konzept gegen Linksextremismus und kündigte an, das Thema in die Innenministerkonferenz von Bund und Ländern tragen zu wollen. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) drängte auf mehr Härte gegen Linksextremisten. Das Bündnis »Leipzig nimmt Platz«, das für Montagabend zu einer Demonstration für Grundrechte aufgerufen hatte, sieht in alldem eine bedenkliche Entwicklung: »Die Exekutive forciert offen die Wandlung in einen autoritären Staat.«
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