Staudamm in der Ukraine: Katastrophe mit Ansage

Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms war erwartet worden. Die Frage ist: Wer hat es getan?

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 5 Min.
Nowa Kachowka steht nach dem Dammbruch unter Wasser. Laut Gouverneur Wladimir Saldo geht dennoch alles seinen gewohnten Gang.
Nowa Kachowka steht nach dem Dammbruch unter Wasser. Laut Gouverneur Wladimir Saldo geht dennoch alles seinen gewohnten Gang.

Seit Monaten blickten Experten und Anwohner gebannt auf das Wasserkraftwerk Kachowka und hofften, dass die 1956 eröffnete Staumauer der Invasion der Russen und der Verteidigung der Ukrainer standhalten wird. Immer wieder war gemunkelt worden, russische Soldaten könnten bei ihrem Rückzug aus Cherson das Bauwerk zerstören und die 18 Milliarden Kubikmeter Wasser des Stausees nutzen, um den Ukrainern den Weg abzuschneiden. Russische Medien schrieben von einer Provokation, die Kiew dort plante. Doch monatelang geschah nichts – bis zum Dienstagmorgen gegen drei Uhr, als die ersten Meldungen aufkamen, der Damm sei doch gebrochen. Später meldeten ukrainische Stellen, das Kraftwerk und der Staudamm seien unwiederbringlich zerstört.

Im Laufe des Tages erreichte das Wasser die Gebietshauptstadt Cherson, die russische Truppen monatelang besetzt hatten. Bis dahin standen bereits große Flächen und viele Orte unter Wasser. Präsident Wolodymyr Selenskyj berief den Nationalen Sicherheitsrat ein und forderte eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats. Befürchtungen, das besetzte und in den vergangenen Monaten immer wieder beschossene größte europäische Atomkraftwerk bei Saporischschja könnte in Gefahr sein, widersprach die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA). »IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau«, schrieb die IAEA auf Twitter. »Keine unmittelbare Gefahr am Kraftwerk.« Es habe noch Kühlwasser für mehrere Tage. Außerdem stehe ein Kühlbecken neben dem AKW-Gelände zur Verfügung, das weiteres Wasser für einige Monate enthalte, so IAEA-Chef Rafael Grossi.

Ukraine evakuiert, Russland nicht

Bereits am Vormittag begannen die ukrainischen Behörden mit der Evakuierung in 80 betroffenen Orten. Für den Mittag wurde ein erster Evakuierunsgzug aus Cherson angekündigt. Bis 15 Uhr Ortszeit habe man 1300 Personen aus ufernahen Bereichen in Sicherheit gebracht, meldeten die Behörden.

Am russisch besetzten linken Dnipro-Ufer im Gebiet Saporischschja wird hingegen Alltag vorgespielt. »Die Menschen auf der Straße sind ruhig, bin gerade erst vorbeigefahren«, schrieb der Moskauer Statthalter der Region, Wladimir Saldo, auf Telegram. »Eine großangelegte Evakuierung der Menschen ist nicht notwendig«, so der russische Gouverneur.

Kiew und Moskau ließen kaum Zeit verstreichen, um den Kriegsgegner für den Dammbruch verantwortlich zu machen. Russland habe eine ökologische Massenvernichtungswaffe gezündet, sagte der ukrainische Präsident. Oleh Dunda, Parlamentsabgeordneter der Präsidentenpartei Diener des Volkes warf Russland Erpressung vor. Moskau habe in den vergangenen Tagen mehrfach über eine Demarkationslinie gesprochen und die Sprengung des Staudamms als Drohmittel eingesetzt, so Dunda.

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wies die Vorwürfe aus Kiew zurück und sprach stattdessen von ukrainischen Saboteuren. Erst vor einer Woche hatte Präsident Wladimir Putin behauptet, die Ukraine plane den Einsatz einer »schmutzigen Bombe«. Kurz nach Bekanntwerden des Dammbruches vermeldete der Inlandsgeheimdienst FSB, einen Anschlag mit solch einer »schmutzigen Bombe« verhindert zu haben, und leitete ein Terrorismusverfahren ein. Der Leiter des Stadtkreises Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, sprach von mehreren Einschlägen durch ukrainische Streitkräfte, die zum Dammbruch geführt hätten, und nährte damit die Vorwürfe gegen Kiew.

Diskutiert wird derweil, welche Seite militärisch vom kaputten Staudamm profitieren kann. Gegenüber der Nachrichtenseite »Moschem objasnit« sprach der ukrainische Reserveoffizier Roman Switan davon, Russland wolle so die ukrainische Gegenoffensive verhindern. Ähnlich äußerte sich Präsidentenberater Mychajlo Podoljak. Durch das Wasser müsse man die Pläne ein wenig anpassen, die Strategie aber bleibe gleich, so Podoljak in einer Youtube-Show.

Es werde zwei bis drei Tage dauern, bis das Wasser ablaufe, erklärte Offizier Switan. Danach, auch das wird in der Ukraine offen gesagt, seien die eigenen Truppen im Vorteil. »Das ist Teil der Vorbereitung für die Offensive«, sagte Switan und erklärte, die ukrainische Aufklärung habe in den vergangenen Tagen verstärkt ihre »Fühler ausgestreckt«, um zu sehen, wie stark die russische Verteidigung am linken Flussufer sei. Russland habe keine Ressourcen, um das Ufer zu schützen, so der Offizier. Die Staudammsprengung sei deshalb ein Manöver gewesen, um die ukrainische Landung um bis zu zwei Wochen zurückzuwerfen.

Kiew, Moskau oder doch die Natur?

Anhand öffentlich zugänglicher Informationen bringen die Journalisten Evan Hill (»Washington Post«) und Christopher Miller (»Financial Times«) noch eine andere mögliche Ursache für das Bersten der Staumauer ins Spiel: Materialermüdung. So seien etwa zu wenig Schleusen in Betrieb gewesen, was enormen Druck auf das Bauwerk ausgeübt habe, heißt es auf Twitter. Ruslan Lewijew, Gründer des Conflict Intelligence Team, weist zudem auf Bilder hin, auf denen bereits vor dem Dammbruch ein starkes Wasserablassen zu sehen ist. Lewijew beruft sich auch auf ein Video, in dem ein wahrscheinlich ehemaliger Mitarbeiter des Wasserkraftwerks davon spricht, dass es keine »Anflüge« irgendwelcher Geschosse gegeben habe.

Während der Verursacher der Katastrophe noch nicht bekannt ist, steht mit der Natur das größte Opfer bereits fest. Auf Telegram warnt der Ökologe Artjom Bataschew vor einer Umweltkatastrophe. Hunderttausende Lebewesen seien betroffen, die Landwirtschaft werde schwer in Mitleidenschaft gezogen. Der Ökologe sagt, der Verlust der riesigen Wassermenge sei eine »Klimaveränderung im europäischen Ausmaß«.

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