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Anne-Frank-Zentrum Berlin: Ein Betrieb, eine Belegschaft
Gemeinsamer Kampf fester und freier Beschäftigter des Anne-Frank-Zentrums für bessere Arbeitsbedingungen
Rote Westen und Tariflunch: Im geschichtsträchtigen Haus Schwarzenberg am Hackeschen Markt liegt montags ein Hauch von Arbeitskampf in der Luft. Viele Beschäftigte des dort beheimateten Bildungsträgers Anne-Frank-Zentrum (AFZ) tragen während der Arbeitszeit die Weste der Gewerkschaft. Damit wollen sie auf die laufende Tarifauseinandersetzung hinweisen. Die gewerkschaftlich Aktiven haben zudem eine ständige Verabredung zum Mittagessen als niedrigschwelligen Anlaufpunkt für interessierte Kolleg*innen, um nächste Schritte zu besprechen.
Prekäre freie Mitarbeit
Am Donnerstag treffen sich die Leitung des Bildungszentrums und die durch die Beschäftigten gewählte Tarifkommission der Gewerkschaft Verdi zum vierten Mal. Es geht um die Erneuerung des 2018 geschlossenen Haustarifvertrags. Von Arbeitskampf soll noch keine Rede sein. »Wir sind noch ganz am Anfang und haben einen guten Prozess in Gang gesetzt«, kommentiert André Pollmann, Gewerkschaftssekretär und Mitglied der Tarifkommission, gegenüber »nd«. Für den Verein nimmt die Direktorin Veronika Nahm teil. Ihr zufolge wird die Umsetzbarkeit erst geprüft, nachdem sich durch den Fortgang der Gespräche ein »Gesamtbild der Forderung konkretisiert« hat. Die Spielräume im finanziellen wie administrativen Bereich seien durch die projektbezogene Förderungsstruktur der Einrichtung aber »eher gering«, teilt sie auf nd-Anfrage mit.
Gegenstand der ersten Termine waren die Bedingungen der knapp 40 Festangestellten. Nun stehen die Interessen der ebenso vielen freien Mitarbeitenden auf der Tagesordnung. »Für uns Freie geht es vor allem ums Geld«, erklären Josefa und Mareike im Gespräch mit »nd«. Beide wollen ihre vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. Seit 2018 begleiten die beiden neben dem Studium die Dauerausstellung im Anne-Frank-Zentrum. Sie habe zu Beginn noch gedacht, dass es möglich sei, sich mit der freien pädagogischen Tätigkeit selbst zu finanzieren, sagt Mareike. Doch bald habe sie sich eine andere Anstellung suchen müssen. »Das hat zu einem Rückgang meiner Tätigkeit im Anne-Frank-Zentrum geführt«, schildert sie. Josefa, ebenfalls Mitglied der Tarifkommission, schätzt, dass sich bei vielen anderen Trägern das Doppelte bis Dreifache verdienen ließe. So ergebe sich eine hohe Fluktuation: »Früher hat man alle zwei Jahre für neue Honorarkräfte ausgeschrieben. Seit Corona jährlich, weil die Leute wegbleiben.«
Qualität durch gute Arbeitsbedingungen
Für die freien Mitarbeitenden fordert Verdi unter anderem ein Honorar von 38 statt bisher 23 Euro pro Stunde, eine Reisepauschale, um Wanderausstellungen auch an entlegenen Regionen zu ermöglichen, und dass sich beim Übergang von freier zu fester Mitarbeit die Betriebserfahrung bei der Eingruppierung bemerkbar macht. Mareike stellt das Ineinandergreifen von fester und freier Tätigkeit heraus: »Wenn wir Freien nicht genug bezahlt werden und abwandern, dann haben sie im festen Team Probleme.« Bestimmte Arbeiten wie die Begleitung von Wanderausstellungen blieben dann liegen. »Wir hingegen sind darauf angewiesen, dass es den Festen gut geht. Die betreuen uns, sind unsere Ansprechpartner, wenn es mal Probleme mit Gruppen gibt.«
Dieses Selbstverständnis als gemeinsame Belegschaft innerhalb eines Betriebsgefüges mündete 2018 in den gleichzeitigen Abschluss eines Tarifvertrages für Festangestellte und eine Rahmenvereinbarung für die freien Mitarbeitenden. »Das scheint mir ein relativ einmaliger Vorgang«, sagt Ingrid Artus zu »nd«. Sie ist Soziologin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Eines ihrer Schwerpunktthemen ist das deutsche Tarifsystem. Neben Festangestellten würden sogenannte Solo-Selbstständige häufig beauftragt, um Lohnkosten zu sparen. Das wiederum erzeuge ein Konkurrenzgefüge. Artus meint: »Es klingt strategisch sinnvoll, dieser Spaltung durch Zusammenschluss zu begegnen.«
Kollegialität und Engagement
Laut Gewerkschaftssekretär Pollmann liegt der Organisationsgrad am Anne-Frank-Zentrum bei 80 Prozent. Viele Beschäftigte seien Verdi-Mitglied geworden, als im Zuge der letzten Tarifkampagne klar wurde, dass sich ihre Interessen festschreiben ließen, meint Mareike. Dadurch sei eine Betriebskultur entstanden, zu der neben Kollegialität auch gewerkschaftliches Engagement gehöre. Aufgrund der vereinzelten Arbeitsbedingungen sei das aber gerade für Freie kein Selbstläufer: »Wir müssen zusammenkommen und uns austauschen, um das Gefühl zu bekommen, für unsere Interessen einstehen zu können.«
Auch kein Selbstläufer wird die Einigung am Verhandlungstisch. Zwar wird von allen Seiten die generell gute, familiäre Atmosphäre hervorgehoben und Direktorin Nahm geht davon aus, dass man in den Verhandlungen zu »einer tragfähigen Lösung kommen werde«. Dennoch hat die Mitgliederversammlung der Gewerkschaft entschieden, den laufenden Tarifvertrag zu kündigen. »Wir wollen die Freiheit haben, ab dem 1. September die Option Streik ziehen zu können. Das heißt nicht, dass wir es darauf absehen, aber das Signal geht an die Arbeitgeberseite: Wir können, wenn wir müssen!«, erklärt Pollmann. Ein Streik ist nämlich frühestens drei Monate nach Kündigung des Tarifvertrags möglich.
Noch ein langer Weg
Diskutiert wird bereits darüber, ob die Verhandlungszeit der Tarifkommission als Arbeitszeit anerkannt wird. Die Arbeitgeberseite verweise darauf, dass Gewerkschaftsarbeit ein Ehrenamt sei. »Die Arbeitgeberin sieht nicht, dass die Tarifinitiative dafür kämpft, dass das Anne-Frank-Zentrum so weiter existieren kann«, kritisiert Mareike. Ein gutes Arbeitsklima und eine Identifikation mit der als wichtig erachteten Arbeit reichten nicht. »Die materielle Wertschätzung fehlt. Unsere Miete können wir nicht von einem Lächeln bezahlen«, ergänzt Josefa. Als Konsequenz haben um die 40 Mitarbeiter*innen erklärt, dem jährlichen Sommerfest fernzubleiben.
Am Donnerstag lädt das Anne-Frank-Zentrum ab 17.30 Uhr zur solidarischen Begleitung der Tarifverhandlung ein, zu der auch Kolleg*innen von Amadeu-Antonio-Stiftung und Oxfam erwartet werden. Bei letzteren steht im Sommer auch eine erste Tarifbewegung an, wie »nd« aus dem Kreis der Beschäftigten erfuhr.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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