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1000 DFB-Länderspiele: Das deutsche Spiegelbild

Im Zeichen gesellschaftlicher Entwicklungen: Die Geschichte der DFB-Auswahl mit ihren bislang 999 Länderspielen

  • Frank Hellmann
  • Lesedauer: 7 Min.
Dem Höhepunkt des Siegtores von Mario Götze (l.) bei der WM 2014 folgte die andauernde Krise.
Dem Höhepunkt des Siegtores von Mario Götze (l.) bei der WM 2014 folgte die andauernde Krise.

Wo die Weser einen großen Bogen macht, ist alles angerichtet. Bremen wird Schauplatz einer geschichtsträchtigen Partie: In einer in der Abenddämmerung fast schon idyllischen Flussbiegung steigt am kommenden Montag das 1000. Länderspiel der Männer in der Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), Gegner ist das ukrainische Team. Die Einnahmen aus der Jubiläumspartie gegen eine kriegsgeplagte Nation einem guten Zweck zuzuführen, kann nicht schaden in Zeiten, in denen das Ansehen der deutschen Nationalmannschaft schon mal besser erschien. Immerhin ist um 18 Uhr zu einer kinderfreundlichen Anstoßzeit ein schöner Rahmen geschaffen, doch das Ereignis wird sich dennoch nicht so einbrennen wie andere Erlebnisse.

Vier Weltmeisterschaften hat die DFB-Auswahl gewonnen, die schnell mehr war als die Ansammlung der besten Fußballer des Landes: ein Abziehbild und eine Projektionsfläche gesellschaftlicher Entwicklungen und politischer Strömungen. Vielleicht war kein Sieg so wichtig wie das »Wunder von Bern« am 4. Juli 1954. Gegen die scheinbar übermächtigen Ungarn 3:2 durch Helmut Rahn aus dem Hinterhalt zu reüssieren, weckte in der Nachkriegszeit eine Aufbruchstimmung, die weit über den Fußball reichte. Die Weisheiten eines Sepp Herberger, die Bescheidenheit eines Fritz Walter wurden zur identitätsstiftenden Legende. Die 54er-Weltmeister schwammen auf einer Welle der Sympathie, ohne dafür Reichtümer zu ernten.

Zwei Jahrzehnte später war das schon anders. Als am 7. Juli 1974 Nationalspieler wie Sepp Maier, Berti Vogts, Paul Breitner, Franz Beckenbauer, Jürgen Grabowski, Bernd Hölzenbein, Wolfgang Overath oder Gerd Müller nach einem 2:1 gegen die Niederlande im Münchner Olympiastadion den Goldpokal empfingen, hatte eine hochbegabte Generation ihre herausragende Stellung der 70er Jahre gekrönt. Eigenwillige Charaktere, besondere Akteure. Die Grundlage war zwei Jahre zuvor mit dem ersten EM-Gewinn gelegt worden, als die von Günter Netzer dirigierte Elf vielleicht sogar den noch schöneren Fußball spielte. Damals begannen die Stars, ihre Bevorzugung offen auszustellen. Spielerfrauen und schicke Autos gehörten jetzt dazu.

Auf eine neue Popularitätsstufe gelangte die Nationalelf nach einer Phase zwischenzeitlich abflauenden Interesses in den 80er Jahren mit der WM 1990. Rekordnationalspieler Lothar Matthäus (150 Einsätze) führte ein facettenreiches, bestimmt nicht fehlerfreies Team an, das mit der Lichtgestalt Franz Beckenbauer den damals passenden Teamchef hatte. Andreas Brehme traf per Elfmeter am 8. Juli 1990 in Rom gegen Argentinien. Ein emotionales Erweckungserlebnis wie wenige Monate zuvor die deutsche Einheit. Wer erinnert sich nicht?

Dagegen werden die Tiefpunkte wie der Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Österreich bei der WM 1982 mit der »Schande von Gijon«, der Rauswurf von Uli Stein bei der WM 1986 (»Suppenkasper«), der »Stinkefinger«-Eklat von Stefan Effenberg bei der WM 1994 gerne verdrängt und vergessen. Als bei der WM 1998 deutsche Hooligans den französischen Polizisten David Nivel ins Koma prügelten, war der deutsche Fußball plötzlich ein Politikum. Der damalige DFB-Präsident Egidius Braun erwog ernsthaft, das Nationalteam vom Turnier abzuziehen.

999 Länderspiele mit 579 Siegen, 206 Unentschieden und 213 Niederlagen bei 2248:1170 Toren verteilen sich auf 89 Gegner. Einige Staaten tragen heute andere Namen, andere gibt es nicht mehr. So wie die DDR. Das innerdeutsche Duell gab es nur einmal: Die 0:1-Niederlage in Hamburg durch das Tor des Magdeburger Stürmers Jürgen Sparwasser war auch ein Meilenstein für die Bundesrepublik. Denn ohne die folgende Aussprache hätte die WM 1974 für Bundestrainer Helmut Schön kein gutes Ende genommen, der vier Jahre später nach der »Schmach von Cordoba« 1978 in Argentinien gehen musste, als die DFB-Delegation übrigens über die Missstände der Militärjunta geflissentlich hinweggesehen hatte.

Unrühmliche Kapitel gab es einige, nachdem alles am 5. April 1908 mit einem 3:5 gegen die Schweiz in Basel an einem regnerischen Tag angefangen hatte. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 geriet auch schnell der Fußball in die Fänge des menschenverachtenden Regimes. Ein Länderspiel gegen Frankreich in Berlin war mit Hitlergrüßen und Hakenkreuzen untermalt, der DFB hatte sich rasch »gleichschalten« lassen, jüdische Mitglieder wurden aus deutschen Vereinen ausgeschlossen. Julius Hirsch, ein jüdischer Nationalspieler, der 1912 gegen die Niederlande als Erster vier Tore erzielt hatte, starb 1945 im Konzentrationslager Auschwitz. Seit 2005 verleiht der DFB zu seinen Ehren einen Preis für Menschen und Initiativen, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung stellen.

Bei der WM 1938 musste Herberger nach dem »Zusammenschluss« mit Österreich auf politischen Befehl eine »großdeutsche Elf« formen, die sich prompt in der ersten Runde gegen die Schweiz blamierte. Während des Krieges versuchte er dann so oft es ging, seine Spieler zu Länderspielen oder Lehrgängen zusammenzurufen, um sie von der Front wegzulotsen, aber in einer »Liste der verstorbenen Nationalspieler« fanden sich in seinem Dokument dennoch 38 Namen.

Es dauerte bis 1950, ehe wieder in einem Länderspiel mit deutscher Beteiligung der Ball rollte: 115 000 Menschen sollen im überfüllten Neckarstadion in Stuttgart das 1:0 gegen die Schweiz gesehen haben. Der Gegner, gegen den die DFB-Elf 53 Mal und damit am häufigsten antrat. Der höchste Sieg war 1912 bei den Olympischen Spielen in Stockholm ein 16:0 gegen Russland, wobei es heißt, dass beim Gegner auch Ruderer und Leichtathleten aufliefen. Gottfried Fuchs schoss jedenfalls zehn Tore – wohl ein Rekord für die Ewigkeit unter den bislang 966 Nationalspielern.

Gegen England gab es mit insgesamt 17 die meisten Niederlagen – die bislang letzte besiegelte in Wembley das Aus bei der EM 2021 und bedeutete das Ende der Ära Joachim Löw. Sein Stil erfüllte höchste ästhetische Ansprüche. Wohl nie hat eine Nationalelf effizienter gespielt als 2014 beim rauschhaften 7:1 im Halbfinale gegen den WM-Gastgeber Brasilien, als sich deutsche Größe vor allem auch darin zeigte, auf unpassendes Triumphgeheul im Tränenmeer von Belo Horizonte zu verzichten.

Der vierte Stern wurde am 13. Juli 2014 gegen Argentinien durch das Tor von Mario Götze gewonnen. Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger und Miroslav Klose, der mit letztlich 71 Treffern in 137 Länderspielen Gerd Müller (68 Tore in 62 Länderspielen) als Rekordtorschütze abgelöst hatte, waren am Ziel ihrer Träume. Mit Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit, aber auch einer Verspieltheit und Lockerheit, die nicht nur den Bundestrainer Löw, sondern auch das Land kennzeichnete. Zuvor war das Sommermärchen bei der WM 2006 der eindrucksvolle Beweis, dass das Lebensgefühl der Deutschen mit der Strahlkraft des Fußballs eine wunderbare Symbiose eingehen kann. War das Land jemals weltoffener als in dieser unbeschwerten Zeit?

Die Nationalmannschaft war oft genug ein Repräsentant des Zeitgeistes, in der sich die Strömungen und Meinungen widerspiegelten. Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese Mannschaft nach dem Höhepunkt von 2014 irgendwie ihren Kompass verlor. 2015 kam die Flüchtlingskrise und die bis heute nicht gelöste Debatte, wie viel Zuwanderung ein Land verträgt. Es folgte bald eine Krise nach der anderen. Heute fürchten viele um die Wettbewerbsfähigkeit der größten Volkswirtschaft Europas. Und genauso wenig konkurrenzfähig wirkten die deutschen Fußballer bei den vergangenen Turnieren.

Das historische Vorrundenaus bei der Weltmeisterschaft 2018 in Russland, als Löw den Ballbesitz zum arroganten Selbstzweck verkommen ließ, wurde noch getoppt durch das auf allen Ebenen vermasselte Turnier 2022 in Katar. Die belehrende deutsche Mission lief in der Wüste ins Leere, man verlor sich zwischen bunten Binden und fatalen Abwehrfehlern, politischen Debatten und vergebenen Chancen. Als Folge heuerte der 90er-Weltmeister und ehemalige Teamchef Rudi Völler in nunmehr dritter Funktion beim DFB als Sportdirektor an, weil sich in seiner Person die Sehnsucht vereint, das Fußballvolk zurückzugewinnen. Seine Beliebtheit beruht darauf, die schönste Nebensache der Welt nicht zu verkomplizieren. Doch ob »Tante Käthe« reicht, um mit der Heim-EM 2024 durch die Nationalmannschaft wieder eine übergreifende Bindung aufzubauen, weiß niemand. Zu viel scheint in den vergangenen Jahren verloren gegangen – daran wird auch der schöne Rahmen rund um das 1000. Länderspiel erst mal nichts ändern.

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