Türkei: Erdoğans neue Mannschaft

Das neue türkische Regierungskabinett lässt eine autoritärere Innenpolitik erwarten

  • Svenja Huck, Istanbul
  • Lesedauer: 5 Min.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan stellte vergangene Woche sein neues Kabinett vor. Bis auf Gesundheitsminister Fahrettin Koca und Tourismusminister Mehmet Nuri Ersoy wurden alle Posten neu verteilt, was auch für einige Überraschung sorgte. Diejenigen, die im Amt bleiben, haben eigentlich keine Erfolge vorzuweisen: Gesundheitsminister Koca hat eine katastrophale Politik während der Pandemie verfolgt, die nach offiziellen Zahlen der Regierung über 100 000 Tote zur Folge hatte. Der ehemalige Innenminister Süleyman Soylu hingegen, die »Nummer zwei hinter Erdoğan«, wurde in journalistischen Kreisen als Berater des Präsidenten vermutet, hat nun aber keinen höheren Posten mehr inne. Obwohl die AKP bei der Wahl im Bündnis mit anderen Parteien antrat, stellen diese wie auch bisher keine Minister. Welche politischen Neuerungen zu erwarten sind, wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen. Fest steht jedoch, dass sich die Probleme aus der vorherigen Legislaturperiode verschärfen werden.

An erster Stelle steht hier die Finanzkrise. Der neu ernannte Finanzminister Mehmet Şimşek ist ein altbekannter AKP-Politiker und war bereits unter den damaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu und Erdoğan im gleichen Amt tätig. Aktuell wurde eine Rede von Erdoğan aus dem Jahr 2019 erneut publik, in der er Şimşek, Davutoğlu und Ali Babacan des Betrugs bezichtigte. Dass er Şimşek nun mit einer öffentlichen Inszenierung der Überzeugung zurückholt in eines der wichtigsten Regierungsämter, ist auch eine Botschaft an die Parteien im Oppositionsbündnis. Die Parteien Deva und Gelecek, angeführt von Davutoğlu und Babacan, hatten sich von der AKP abgespalten und das Finanz- und Wirtschaftsprogramm des oppositionellen Bündnisses der Nation (Millet İttifakkı) entscheidend geprägt.

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Die neue Erdoğan-Regierung scheint sich dieser Programmpunkte bedienen zu wollen, vielleicht auch in der Hoffnung, die ehemaligen Parteikollegen zurückzugewinnen. Als allererstes erklärte Finanzminister Şimşek die »Rückkehr zu Rationalität«. Evrensel-Kolumnist Hakkı Özdal kommentierte dazu: »Was der neue Finanzminister nun als Rückkehr zur Rationalität bezeichnet, ist in Wirklichkeit eine Zwangsläufigkeit, die sich ergibt, wenn die wahlkampforientierte ›Irrationalität‹ unter keinen Umständen aufrechterhalten werden kann.« Für eine kapitalistische Regierung sei dies keine politische Entscheidung, sondern eine Notwendigkeit. »Die erste Auswirkung der erzwungenen Rückkehr zur Rationalität zeigte sich bei den Devisenkursen.«

Dauerbrenner Inflation

In den vergangenen Tagen brach der Wert der Lira im Vergleich zum Dollar wieder neue Negativrekorde. Özdal stellt die Frage: »Hat die ›neue‹ Regierung aus Rationalität aufgehört, Reserven zu verbrennen, oder gibt es ohnehin keine Reserven mehr, die man verbrennen könnte? Die Kassen der Zentralbank sind leer.« Bis vor den Wahlen hatte die Regierung den Wert der Lira künstlich aufrechterhalten. Dass sie innerhalb weniger Tage massiv an Wert verloren hat, deutet darauf hin, dass diese Zeiten vorbei sein könnten. Die Wählerschaft der AKP hingegen ist überzeugt, dass ihre Regierung nicht an der Wirtschaftskrise schuld sei, sondern im Gegenteil, diese in der neuen Legislaturperiode endlich lösen könne.

Ein erster Vorschlag aus den Kreisen des Kapitals kommt vom Präsidenten der Türkischen Exporteursversammlung (TIM), Mustafa Gültepe. Er forderte vergangene Woche in aller Offenheit eine Senkung der Löhne: »Wir sollten in der Lage sein, den Mindestlohn auf einem Niveau von maximal 300 bis 400 Dollar zu halten.« Für Juli ist eine Anpassung des Mindestlohns angedacht, die Regierung lässt bereits erkennen, dass diese weit unter der tatsächlichen Inflation zu erwarten ist. Die AKP wird sich in ihrer Wirtschaftspolitik auch an den Vorschlägen der Opposition bedienen, was die Ausbeutung der Werktätigen verschärfen wird. Dass sich hiergegen Widerstand bilden wird, ist unausweichlich, doch die Frage ist, ob die organisierte Linke in der Lage wäre, spontane Aufstände der Unterdrückten politisch anzuführen und ihnen zum Erfolg zu verhelfen.

Der neue Außenminister Hakan Fidan war 13 Jahre lang Chef des türkischen Geheimdienstes und selten in der Öffentlichkeit. Jedoch ist bekannt, dass der türkische Geheimdienst in Konflikten wie in Syrien eine zentrale Rolle spielte, ebenso wie bei der Überwachung und Einschüchterung türkischer Oppositioneller im Ausland, auch in Deutschland. Fidan reiste häufig gemeinsam mit Erdoğan ins Ausland, ist also international kein Unbekannter. Dass er nun das Amt wechselt, könnte eine strategische Entscheidung sein: Die bisherige Geheimdiplomatie soll stärker in die Öffentlichkeit getragen werden. In jedem Fall ist es ein Signal der Stärke, dass die türkische Regierung mit Fidan nun ins Ausland sendet, noch einmal mehr als sein Vorgänger Çavuşoğlu.

Konflikte vorprogrammiert

Während das Kabinett nach außen einen Eindruck der vernünftigen Technokraten vermitteln und wieder Vertrauen unter internationalen Investoren schaffen soll, bedeutet es innenpolitisch eine weitere autoritäre Entwicklung. Extrem rechte Parteien wie die MHP und die durch ihre Frauenfeindlichkeit auffallende HÜDA-PAR sitzen ebenfalls im Parlament und werden sich ihre Unterstützung für die insgesamt geschwächte AKP etwas kosten lassen. Justizminister Yılmaz Tunç hatte am Donnerstag außerdem erklärt, dass für den nach wie vor inhaftierten Abgeordneten der linken Arbeiterpartei der Türkei TİP, Can Atalay, die Immunität als Abgeordneter nicht gelte und somit seine Haftentlassung nicht bevorstünde.

Die Frage, wie unabhängig die Ministerien wirklich entscheiden können oder ob ihre Politik durch den Präsidenten von oben herab bestimmt wird, wird von einigen etwas zu leichtfertig mit der zweiten Option beantwortet. Gerade die Konflikte innerhalb der Regierung in den vergangenen Jahren, die regelmäßige Abberufung von Finanzministern und auch der kurzzeitige Rücktritt von Innenminister Soylu haben gezeigt, dass es nicht den einen Befehlshaber an der Spitze des Staates gibt und die Minister nur dessen Befehle ausführen. Dass die AKP in der Wahl de facto Stimmen verloren hat und Erdoğan erst in der Stichwahl zum Präsidenten gewählt wurde, wird auch innerhalb der AKP zu weiteren Konflikten führen.

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