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Queere Geschichte: Nicht nachlässig werden

Mit »Queer« hat der Historiker Bruno Gammerl eine andere deutsche Geschichte geschrieben

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 4 Min.
Ganz schön bunt hier mittlerweile – trotzdem gibt es immer noch Ungleichbehandlung.
Ganz schön bunt hier mittlerweile – trotzdem gibt es immer noch Ungleichbehandlung.

Keck den Blick Richtung Kamera gewandt, einen Stift ans Kinn gestützt: So präsentieren sich fünf Aktivistinnen aus dem bürgerlich-radikalen Flügel der Frauenbewegung auf einem Foto. Unter ihnen Minna Cauer, die 1895 die Zeitschrift »Die Frauenbewegung« gründete. Zwei der Aktivistinnen – Anita Augspurg und Sophia Goudstikker – waren ein Paar, was Grund genug für einen Skandal gewesen wäre. Allerdings, so schreibt Benno Gammerl, sei es damals vielen Menschen schwergefallen zu glauben, dass Frauen andere Frauen lieben und mit ihnen Lust empfinden könnten.

Mit der Kaiserzeit beginnt der Historiker seinen Überblick über queere Geschichte in Deutschland. Mit »Queer« legt er einen Abriss zentraler rechtlicher, politischer und kultureller Entwicklungen aus queerer Perspektive vor, ein Blickwinkel, der – wie auch die Erfahrungen anderer marginalisierter Gruppen – in der Geschichtsschreibung häufig vernachlässigt wurde. In seinem 2021 erschienenen Buch »Anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte« hatte Gammerl Einblicke in Lebens- und Gefühlswelten gleichgeschlechtlich liebender Menschen aus unterschiedlichen Milieus, Religionen und Generationen gegeben. Mit »Queer« geht er weiter zurück in die Geschichte, konzentriert sich auf den historischen Kontext statt auf individuelles Erleben, stellt aber auch bedeutende Akteur*innen queerer Kämpfe vor.

Wichtig ist ihm, keine von Ambivalenzen und Brüchen unbeirrte Emanzipationsgeschichte zu erzählen. »Ein geradliniges Erfolgsnarrativ wäre wenig überzeugend«, schreibt er. Denn so wie auch heutzutage keine völlige Gleichberechtigung queerer Lebensweisen erreicht sei, so sei auch zu anderen Zeiten die Situation nicht so eindimensional gewesen, wie es heute teilweise erscheine. »Vielmehr prägt die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung queere Politik und queeren Alltag bis heute.«

Fest steht: Queeres Leben gab es immer. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass sich auch im Kaiserreich Menschen gegen Unterdrückung und Stigmatisierung von Homosexuellen einsetzten. Um 1900 entwickelte sich um Magnus Hirschfeld, Adolf Brand und andere die erste sexuelle Emanzipationsbewegung.

Gammerl zeigt, dass die Verklärung der »goldenen« 20er Jahre der historischen Komplexität nicht gerecht wird. Tatsächlich erlebten queere Subkulturen eine Blütezeit – und an den Grenzen zwischen den Geschlechtern wurde ordentlich gerüttelt. Es wurden sogar »Transvestitenscheine« ausgestellt, die vor Verhaftung schützen sollten. Allerdings hätten sich viele einen solchen Schein nicht leisten können, schreibt Gammerl. Und so avantgardistisch manche Kreise waren, Strafverfolgung Homosexueller gab es nach wie vor – genauso wie äußerst problematische Therapien zur »Heilung von Homosexualität«.

Der Nationalsozialimus war durch eine grausame Verfolgung Homosexueller geprägt, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kein schlagartiges Ende fand. Gammerl erläutert, dass die Erzählung von einem vollständigen Neuanfang nach 1945 auch in Hinblick auf queere Geschichte eine Mär ist. So seien manche männerliebende Männer, die zuvor im KZ gewesen seien, direkt wieder ins Gefängnis gekommen. Der 1871 eingeführte Paragraf 175, der Sex zwischen Männern unter Strafe stellte, galt in der BRD in veränderter Form bis 1994. In der DDR wurde die strafrechtliche Diskriminierung gleichgeschlechtlich begehrender Menschen früher abgeschafft.

Bereits die 70er hatten die Option für neue Lebensentwürfe mit sich gebracht. Doch, wie Gammerl zeigt, gab es auch unter queeren Menschen Konflikte darum, wie man leben und wofür man kämpfen sollte. Homo- und heterosexuelle Beziehungsmuster existierten niemals völlig isoliert, sondern traten in Wechselwirkung zueinander. In den 80er Jahren führte Aids zu einer eklatanten Re-Stigmatisierung, zugleich entwickelten sich emanzipative Gegenstrategien.

Auf knappen 230 Seiten legt Gammerl einen kompakten, aber differenzierten und komplexen historischen Abriss vor. »Queer« ist ein inhaltlich wie sprachlich zugängliches, lebendiges und mitreißendes Buch und ein äußerst gelungenes Beispiel für ein populärwissenschaftliches Sachbuch, das unzählige Anhaltspunkte zum Weiterlesen liefert. Der Autor verzichtet zugunsten eines ausführlichen Anhangs auf Fußnoten, verweist auf weiterführende Literatur und gibt Einblicke in die Forschung.

»Der Ritt durch 150 Jahre queerer Geschichte warnt jedoch auch vor nachlässiger Behaglichkeit«, schreibt Gammerl. Männer, die Sex mit Männern haben, brauchen kein Gefängnis mehr fürchten. Lesben und Schwule können heiraten. Trans Personen müssen sich nicht mehr sterilisieren lassen, wenn sie ihr Geschlecht angleichen lassen wollen. Trotzdem gibt es noch Ungleichbehandlung. Gammerl erinnert etwa daran, dass 2022 beim CSD in Münster ein trans Mann an den Folgen einer Prügelattacke starb. Der Historiker warnt davor, sich auf historischen Errungenschaften auszuruhen. »Geschichte soll uns vielmehr als lebendige Erzählung daran erinnern, dass wir nicht wissen können, wie die Zukunft wird, und uns gerade deswegen darum kümmern müssen.«

Benno Gammerl: Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. Carl-Hanser-Verlag, 272 S., geb., 24 €.

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