Russland: »Raub, Mord und Totschlag nehmen zu«

Aktivistin Marina Sagorodnewa spricht über die Veränderungen in der russischen Gesellschaft

  • Interview: Ardy Beld
  • Lesedauer: 7 Min.
Aleksandra (Sascha) Skotschilenko sitzt wegen Antikriegsaktionen seit 11. April in Haft.
Aleksandra (Sascha) Skotschilenko sitzt wegen Antikriegsaktionen seit 11. April in Haft.

Am 13. Juni fand eine weitere Anhörung im Gerichtsverfahren gegen die Comiczeichnerin Sascha Skotschilenko statt, die am 11. April wegen Kritik am Krieg Russlands gegen die Ukraine festgenommen worden war. Wie ist sie verlaufen?

Ich kenne Sascha nicht persönlich, habe mich aber nach ihrer Verhaftung einer Gruppe von Unterstützern angeschlossen. Bei der Anhörung ging es wieder einmal um gar nichts. So wurde Sascha beispielsweise gefragt, ob sie glaube, dass das russische Verteidigungsministerium wahrheitsgemäße Informationen verbreite. Eine rhetorische Frage, natürlich verneinte sie. Am Ende der Anhörung wurde ihre Untersuchungshaft nochmals bis zum 10. Juli verlängert.

Was wird ihr vorgeworfen?

Sie hatte in einem Petersburger Supermarkt Lebensmittel mit selbstgemachten Aufklebern versehen, auf denen kurze Sätze über die Bombardierung von Mariupol, über die Zahl der getöteten russischen Soldaten und über Putins Lügen standen. Ihr wird vorgeworfen, absichtlich Lügen über die russische Armee und die sogenannte militärische Spezialoperation verbreitet zu haben. Eine Rentnerin hatte ein solches von Sascha erstelltes Etikett gefunden. Die Frau war wütend und ging damit gezielt zur Polizei, nachdem ihr im Supermarkt keiner hatte zuhören wollen. So kam der Fall ins Rollen. Am Ende könnte Sascha zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt werden.

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Was für einen Sinn haben all diese Anhörungen für die Justiz?

Es werden ständig alle möglichen Gutachten erstellt. Beim vorletzten Mal gab es ein linguistisches Gutachten über ihre Texte, die sie auf die Lebensmittel geklebt hatte. Das war wirklich bizarr. Bei diesen Gutachten wird ein bestimmtes Thema bis auf den Grund erforscht, bis nichts mehr davon übrig ist. Der Anwalt sagte mir, mit solchen Gutachten lasse sich gutes Geld verdienen. Das wird der Hauptgrund sein.

Sie selbst haben mit Luftballons in Farben der ukrainischen Flagge gegen den Krieg protestiert. Wie reagierten die Passanten?

Um uns herum war eine Menge Leute. Wir sind einfach weitergegangen und ich habe nicht wirklich gehört, was Passanten gesagt haben. Wir wurden ziemlich schnell verhaftet und hatten nur Zeit, von der Mitte des Gostiny Dwor, des größten Kaufhauses Sankt Petersburgs, bis zum Ende zu gehen. Ich habe auch einmal eine Protestaktion gemacht, bei der mich die Polizei gar nicht abgeholt hat (lacht). Ich stand dort ganze vier Stunden. Es gab sogar Leute, die mir etwas zu essen und zu trinken brachten. Gegen Ende stand eine ganze Menge Lebensmittel um mich herum (lacht). Meine jüngste Aktion mit dem Schild »Freiheit für alle politischen Gefangenen« hat schon Aggressionen hervorgerufen. Ich stand vor der U-Bahn-Station und zwei große Männer, Typus Türsteher, kamen auf mich zu, wurden sofort unhöflich zu den Journalisten und zu mir. Sie fragten uns, was für politische Gefangene es in Russland gebe.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Ich habe überhaupt nicht reagiert. Ich wollte die Umstehenden – einige Journalisten und eine kleine Gruppe von Leuten, die mich unterstützte – nicht einer möglichen aggressiven Reaktion der beiden aussetzen. Als ich nichts sagte, sind sie einfach gegangen.

Es gibt also noch unabhängige Journalisten in Russland, die über solche Proteste berichten?

Ja, es gibt ein paar kleine lokale Medien, die darüber berichten, aber leider werden es immer weniger. Rusnews ist ein Beispiel dafür, von denen sitzen zwei Korrespondenten im Gefängnis. Das Risiko, dem diese Reporter täglich ausgesetzt sind, ist enorm. Aber auch Anwälte, die sich für Andersdenkende einsetzen, sind vor der Justiz nicht mehr sicher.

Was geschah auf der Polizeiwache?

Beim ersten Mal hatte ich furchtbare Angst. Ich dachte, sie würden mir eine Plastiktüte über den Kopf ziehen, wie ich es aus den Erzählungen eines Demonstranten in Moskau kenne. Ich dachte, sie würden mich foltern. Aber merkwürdigerweise passierte nichts. Ich saß einfach nur da. Ich glaube, sie wussten nicht so recht, was sie mit mir machen sollten. Sie waren auch ein bisschen dumm und konnten in vier Stunden nicht einmal einen Bericht schreiben. Die Wache war baufällig und sehr schmutzig. Diese Beamten hatten nicht einmal eine normale Toilette, nur ein Loch im Boden. Es gibt keine normale Wasserversorgung; ein Strahl schmutzigen Wassers läuft in einen stinkenden Behälter. Das war bei den Beamten, nicht in der Zelle. Daran musste ich denken, als ich neulich las, dass irgendwo in Russland ein Polizeikommissar ein Haus mit einer goldenen Toilettenschüssel bauen ließ. Dieses Haus wurde zunächst beschlagnahmt, weil er angeblich in Korruption verwickelt war. Später wurde es ihm zurückgegeben. Unglaublich! Und normale Polizeibeamte haben nicht einmal eine Toilette.

Interview

Die 28-jährige Marina Sagorodnewa aus Sankt Petersburg wurde am 12. Juni festgenommen, weil sie vor der Metrostation »Petrogradskaja« ein Schild mit der Aufschrift »Freiheit für alle politischen Gefangenen« hochhielt. Am Abend war sie wieder frei. Sie spricht über die inhaftierte Comiczeichnerin Sascha Skotschilenko, ihren eigenen Protest und die Unterstützung für Wladimir Putin.

Warum also sollte jemand dort arbeiten wollen? Um nicht an die Front zu müssen?

Nein, dieser Trick funktioniert nicht mehr. In vielen Regionen werden Polizeiwachen massenhaft geschlossen, weil es an Personal mangelt. Polizisten müssen zur Armee oder verziehen sich ins Ausland, um nicht einberufen zu werden. Und die Kriminalität steigt gewaltig an wegen all der Kriminellen, die an der Front waren, nach sechs Monaten als freie Menschen nach Hause zurückkehren dürfen und dort ihrem alten Beruf wieder nachgehen. Die täglichen Meldungen über Raub, Mord und Totschlag nehmen im ganzen Land zu.

Haben Familienmitglieder oder Freunde wegen Ihrer politischen Ansichten den Kontakt abgebrochen?

Ja, meine Eltern. Das Verhältnis war noch nie gut, aber seit ich gesagt habe, dass es sich nicht um eine militärische Spezialoperation, sondern um einen Krieg handelt, wurde der Kontakt völlig abgebrochen. Darüber mache ich mir aber keine großen Sorgen. Meine Eltern sind schon sehr speziell, mit so etwas habe ich immer gerechnet. Was Freunde angeht, so habe ich nur einen kleinen Freundeskreis. Inzwischen hat ein guter Freund hier in St. Petersburg eine erste Nachricht über seine bevorstehende Einberufung zum Militärdienst erhalten. Er versucht zu vermeiden, etwas über meine Aktionen zu sagen. Aufgrund seiner Situation kann ich ihn verstehen.

Politische Gegner werden meist von der Bevölkerung selbst aufgespürt und der Justiz gemeldet, wie im Fall von Sascha Skotschilenko. Gibt es viele anonyme Anzeigen?

Ich hätte es bemerkt, wenn es wirklich Leute gäbe, die herumlaufen und Demonstranten ausspionieren, um sie der Polizei zu melden. Das passiert eher in den sozialen Medien. Ich erhalte alle Arten von Beschimpfungen über das Internet. Wenn eine anonyme Anzeige gegen mich erstattet wird, dann ist das eben so. Dagegen kann ich auch nichts mehr machen.

Sankt Petersburg galt einst als kulturelles und intellektuelles Zentrum Russlands. Hat sich in der Stadt viel verändert?

Das ist schwer in Worte zu fassen. Natürlich haben sich die Dinge verändert. Nach der Mobilisierung fiel mir auf, dass es wirklich kaum noch junge Männer gab. Wenn man in die U-Bahn steigt, sieht man sie nicht mehr. Nur noch diese alten, traurigen Typen. Und eine Menge Betrunkener, Alkoholiker eben.

Glauben Sie, dass die Unterstützung für den Krieg vom Alter abhängt?

Nein, auf gar keinen Fall. Ich sehe viele Zwölfjährige, die alles mit Begeisterung unterstützen. Sie schimpfen mit mir und sagen, sie hofften, dass ich im Gefängnis krepieren werde. Sie finden, dass die Männer der Wagner-Söldnerarmee die Besten sind.

Würden Sie Russland verlassen, wenn die Gefahr besteht, inhaftiert zu werden?

Ich möchte gerne glauben, dass alles wieder gut wird. Außerdem, wohin sollte ich gehen?

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