- Politik
- Unruhen in Frankreich
Aufruhr der Diskriminierten
Proteste nach Todesschüssen der Polizei wecken Erinnerung an wochenlange Unruhen vom Herbst 2005
Als Reaktion auf den Tod eines 17-Jährigen durch Schüsse eines Polizisten kam es in der Nacht zum Donnerstag in Nanterre und weiteren Städten der Pariser Region, aber auch in Lyon und Toulouse sowie in kleineren Städten Nordfrankreichs zu Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Dabei gab es Verletzte und mehr als 100 Autos wurden in Brand gesteckt. Oft wurde dann selbst die Feuerwehr mit Steinwürfen empfangen und an der Arbeit gehindert. Vielerorts wurden auch Polizeireviere, Schulen und andere öffentliche Gebäude angegriffen, wobei nicht selten Feuer gelegt wurde.
Die gewalttätigen Unruhen sind Reaktionen auf den Tod des 17-jährigen Autofahrers Nahel M. Der Jugendliche nordafrikanischer Abstammung war am Dienstagmorgen in Nanterre bei Paris nach einer Verfolgungsjagd von einer Polizeipatrouille zunächst gestoppt und dann aus nächster Nähe erschossen worden, als er sich der Personenkontrolle durch Flucht entziehen wollte.
Die beiden Polizisten hatten zunächst erklärt, sie hätten sich in einer Notwehrsituation befunden und es habe die Gefahr bestanden, dass sie überfahren werden. Doch aus Videoaufnahmen von Straßenüberwachungskameras und von Zeugen, die die Szene filmten, ist ersichtlich, dass die Polizisten gelogen haben. Beide standen seitlich von dem sich wieder in Bewegung setzenden Auto, einer von ihnen gab die Schüsse sofort und ohne Not ab. Das Auto setzte seine Fahrt noch etwa 50 Meter fort und prallte dann gegen einen Mast. Der Fahrer war sofort tot, von den zwei Passagieren konnte einer entkommen und der zweite wurde verhaftet.
Der Todesschütze wurde von der »Polizei der Polizei« genannten Sonderabteilung des Innenministeriums in Haft genommen. Gegen ihn wurde eine Untersuchung zunächst wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet. Später wurde das abgeändert, mittlerweile wird wegen des Verdachts auf Totschlag ermittelt. Die Untersuchungshaft wurde nach Ablauf der zulässigen ersten 24 Stunden verlängert, was bei Fällen, in denen gegen Polizisten ermittelt wird, sehr selten ist. Am Donnerstag sollte der mutmaßliche Schütze einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden.
In Frankreich wird immer wieder übermäßige Polizeigewalt angeprangert. Im Zuge von Verkehrskontrollen starben im vergangenen Jahr 13 Menschen, so viele wie noch nie. Weil die Schüsse auf Nahel M. ohne triftigen Grund abgegeben wurden, sind diesmal auch die rechten Polizeigewerkschaften bemerkenswert zurückhaltend. Selbst der scharfmacherische Innenminister Gérald Darmanin verteidigte nicht wie gewöhnlich pauschal die Polizei, sondern nannte die Videoaufnahmen »schockierend« und kündigte eine strenge Untersuchung im eigenen Haus und durch die Justiz an.
Dieser neuerliche Fall übermäßiger und rassistischer Polizeigewalt mit Todesfolge hat schnell große innenpolitische Dimensionen angenommen. Scharfe Kritik kommt nicht nur von der linken Opposition, sondern auch Politiker der Regierung gehen auf Distanz zur Polizei. Präsident Emmanuel Macron sagte: »Nichts rechtfertigt, dass ein junger Mensch sterben muss.« Premierministerin Elisabeth Borne erklärte, es liege »offenbar ein Fehlverhalten der Polizei« vor. Dafür wurden beide umgehend von Marine Le Pen scharf angegriffen, die diese Stellungnahmen »unverantwortlich« nannte. Sie erklärte, die Sozialwohnviertel der Vororte seien »Zonen ohne Recht und Gesetz«, in die sich die Polizei nicht mehr hineintraue und wo Drogendealer und kriminelle Jugendbanden straflos herrschten.
Die sich aus den Todesschüssen vom Dienstag ergebende Situation erinnert an den Herbst 2005, als zwei Jugendlichen, die sich auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatorhaus verstecken wollten, dabei ums Leben kamen. In der Folge brannten wochenlang Nacht für Nacht in der Pariser Region und in anderen Städten des Landes Autos und es kam zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Seitdem hat sich praktisch nichts an der sozial brisanten Situation in den Vorstädten verändert, stellt die linke Opposition fest.
Für die Nacht zum Freitag hat Innenminister Darmanin landesweit 40 000 Polizisten und Gendarmen mobilisiert, davon allein 5000 in der Pariser Region, um erneute Unruhen zu verhindern. Die Regierung lehnt es jedoch ab, den Ausnahmezustand auszurufen, wie das vom Parteivorsitzenden der rechtsoppositionellen Republikaner, Eric Ciotti, und von einigen Bürgermeistern von Städten gefordert wurde, wo es besonders gewalttätige Unruhen mit schweren Folgen gab. Premierministerin Elisabeth Borne erklärte am Donnerstag: »Der Tod des jungen Nahel ist ein Drama, und ich verstehe die Emotionen, die sein Schicksal auslöst. Aber nichts rechtfertigt Gewalttaten, wie wir sie in der vergangenen Nacht erlebt haben.«
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