Nahost-Konflikt: Alayehs Aufbruch

Eine Frau wagt im Westjordanland den Schritt in die Selbstständigkeit und gründet eine Schäferei

  • Dario Antonelli und Giacomo Sini, Deir Ghassane
  • Lesedauer: 9 Min.
Die Hirtin Alayeh Shoaybi hat derzeit etwa ein Dutzend Tiere, die sie regelmäßig auf dem Nachbargrundstück weiden lässt. Ihre Herde soll schon bald auf 20 Tiere anwachsen.
Die Hirtin Alayeh Shoaybi hat derzeit etwa ein Dutzend Tiere, die sie regelmäßig auf dem Nachbargrundstück weiden lässt. Ihre Herde soll schon bald auf 20 Tiere anwachsen.

Naser Qadous hält am Straßenrand an und schaut einen Moment aus dem Fenster. »Es sieht aus, als wäre geschlossen«, sagt er enttäuscht, »hier machen sie die besten Falafel.« Dann fährt er mit seinem Auto weiter, verlässt die Außenbezirke von Ramallah und beginnt zu erzählen: »Als Anera-Verein ist es eine unserer wichtigsten Aufgaben, Frauen zu unterstützen und ihre Rolle in der Gesellschaft zu stärken.« Nariman Deik, Koordinatorin des Frauen-Unterstützungsprogramms von Anera, sitzt neben ihm und erklärt, dass sich ihre Projekte besonders an geschiedene Frauen richteten, die am stärksten von sozialer Isolation bedroht seien. »Während die Palästinensische Autonomiebehörde für Witwen und Waisen Unterstützung und soziale Eingliederung anbietet, gibt es für geschiedene Frauen, selbst wenn sie Söhne oder Töchter haben, keine angemessene Hilfe.«

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Es regnet leicht, und mit einer sanften Bewegung fegen die Scheibenwischer über die Windschutzscheibe. Wir fahren die Straße 465 entlang. Obwohl der Himmel düster ist, leuchtet das Grün des Kiefernwaldes von Um Safa. Naser Qadous wird langsamer und zeigt mit dem Kopf nach rechts: »Das war früher ein Park für die Einheimischen, wir kamen oft zum Grillen hierher.« Die Bäume wachsen dicht am Straßenrand, und der Wald zieht sich den Hügel hinauf. »Jetzt ist alles geschlossen«, erklärt er, »wegen der israelischen Siedler. Sie weisen einigen ihrer Hirten große Gebiete zu, die dann aus Sicherheitsgründen für die gesamte palästinensische Bevölkerung in dem Gebiet unzugänglich gemacht werden.« Zwischen den Bäumen und Büschen ist ein Zaun zu erkennen, der parallel zur Straße verläuft.

In den letzten drei Jahren wurden von Anera etwa 350 Frauen unterstützt, 90 seit Anfang dieses Jahres. »Sie werden vom palästinensischen Ministerium für soziale Entwicklung an uns verwiesen«, erklärt Nariman Deik. »Wir helfen ihnen dabei, ihre Ideen zu verwirklichen.« Sie sollten ihr Potenzial entwickeln. »Wir bewerten ihre Vorhaben gemeinsam nach den vorhandenen Fähigkeiten, ihren Bedürfnissen und tatsächlichen Möglichkeiten, sich zu entwickeln.« Es könne sich um die Weiterentwicklung eines bereits bestehenden Projekts handeln, beispielsweise um einen kleinen Lebensmittelladen, oder um den Start eines neuen Unternehmens, erklärt Nariman Deik. »Jedes einzelne Projekt wird im Schnitt mit rund 3100 Euro gefördert.« Die Nichtregierungsorganisation Islamic Relief beteiligt sich an der Finanzierung. Auch Alayeh Shoaybi, die sie heute besuchen, wurde ihnen vom Ministerium verwiesen. Sie betreibt eine Schäferei im Dorf Deir Ghassane.

Wir passieren Nabi Saleh. Das Dorf ist für die gewaltfreie, von Frauen initiierten Proteste gegen die israelische Besatzung bekannt geworden. Am Ortseingang stehen ein großes rotes Schild, das den Eingang zur Zone A der palästinensischen Verwaltung im Westjordanland markiert, und ein Betonturm mit der israelischen Flagge. Davor sind ein Panzerwagen und schwerbewaffnete Soldaten postiert. »Morgens kann man durchkommen«, erklärt Naser Qadous, »aber nachmittags sperren sie die Straße mit einem Kontrollpunkt, und die Bewohner der Gegend müssen einen großen Umweg fahren. Für diejenigen, die draußen arbeiten, ist das wirklich ein Problem.«

Als wir in Deir Ghassane ankommen, hört es auf zu regnen. Wir halten vor einem Haus, und ein Mann kommt uns entgegen. Er winkt zur Begrüßung und lächelt freundlich, sein kurzer ergrauter Bart hebt sich von dem dunklen Gesicht ab. Es ist Kareem Shoaybi, Alayehs Ehemann. Sie geht mit ihrem Sohn Karam die Straße entlang. Das Kind lacht und trägt stolz ein kleines Nest in der Hand, das es unter einem Baum gefunden hat.

Hinter dem Haus steht der Schafstall. »Die Lämmer sind gewachsen, wir haben sie von ihren Müttern getrennt«, erklärt die Hirtin. »Jetzt gibt es nur wenige Schafe, weil wir einige erst kürzlich verkauft haben.« Das wird sich aber wieder ändern, in den kommenden Monaten soll die Herde wieder größer werden. Sie öffnet das Holztor, und die Schafe rennen mit gesenktem Kopf heraus, zwängen sich an den Salbeisträuchern und Haferkolben vorbei und laufen mit der Hirtin die Straße hinauf. Einige Meter weiter liegen zwei Grundstücke ihrer Nachbarn direkt vor dem Haus, in dem Alayeh Shoaybi mit ihrer Familie lebt. »Auf dem Feld links lasse ich die Schafe weiden, auf dem anderen bauen wir Heu und Getreide an«, erklärt die Frau, ohne die Herde aus den Augen zu lassen. Sie muss die Schafe nicht zum Weiden auf die Felder außerhalb des Dorfes bringen, das Land reicht für die paar Tiere aus. »Die Unterstützung der Nachbarn ist wichtig«, meint sie. »Wir sind Palästinenser, es gibt einen starken Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft.«

Vor dem Haus beobachtet Kareem Shoaybi die Weide, mit der linken Hand hinter dem Rücken umklammert er den rechten Ärmel seines gestreiften Hemdes, der leer ist. Er wuchs in einer Hirtenfamilie auf und wurde als Junge beim Weiden seiner Herde von einem herabstürzenden Stein getroffen. Die Verletzung war so schwer, dass ihm der rechte Arm amputiert werden musste. »Mein Mann hat mir sehr geholfen, den Umgang mit der Herde zu lernen«, erklärt Alayeh Shoaybi. »Es war auch seiner Erfahrung zu verdanken, dass wir damit angefangen haben.« Schon als sie ihn kennenlernte, dachte sie daran, Hirtin zu werden: »Wir waren in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Für meinen Mann war es wegen seiner Behinderung nicht leicht, Arbeit zu finden, und wenn er einen Job hatte, bekam er oft nur wenig Lohn. Aber wir hatten das Familienhaus und ein kleines Stück Land, also beschlossen wir vor zwei Jahren, Schafe zu züchten. Wir stellen auch Käse her, den wir vermarkten.«

Der Anfang sei schwer gewesen, gesteht sie. Es habe einige Monate gedauert, bis die Herde angewachsen ist, und bei einigen Aufgaben hat sie anfangs Unterstützung von Anera-Trainern benötigt. »Aber inzwischen läuft es gut.« Sie bereut die Entscheidung nicht. »Die Schäferei verschafft uns ein zusätzliches Einkommen und erlaubt mir, die drei Kinder großzuziehen«, erzählt sie, während sie die Schafe zusammentreibt und mit ihnen wieder die Straße hinunterläuft.

Naser Qadous begleitet die Hirtin zurück zum Stall. »Die Projekte, die wir unterstützen, müssen sich selbst tragen«, erklärt er. »Für diejenigen, die sie gegründet haben, müssen sie wirklich nützlich sein.« Anera bietet den Start-ups eine umfangreiche Hilfe auf dem Weg in die Selbstständigkeit an und begleitet die kleinen Projekte langfristig mit Beratungen, Schulungen oder Mentoren.

Der Verein hat kürzlich entschieden, wegen der verbreiteten Maul- und Klauenseuche nicht mehr alle Vorhaben zu unterstützen. Das Risiko wäre zu groß, dass solche Gründungen scheitern. Frauen und ihre Familien, die ohnehin schon in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken, würde das nur noch weiter gefährden, so die Annahme. Alayeh Shoaybi aber konnte die Probleme meistern. »Sie hat sich mit großer Sorgfalt um die Herde gekümmert«, sagt Naser Qadous. »Kein Tier ist gestorben. Die Seuche hatte keinen großen Einfluss auf ihre Herde.«

Als sie sich im Frühjahr 2021 entschieden hat, Schäferin zu werden, hatte ihr der Verein drei Schafe und die notwendige Ausrüstung gekauft, damit sie beginnen konnte. »Seitdem hat sich viel getan«, merkt Naser Qadous an. »Für eine Familie wie diese ist eine Herde von 20 Schafen die richtige Größe, um ein gutes Einkommen und niedrige Betriebskosten zu haben.« Sie können beispielsweise dann immer einige Schafe verkaufen und mit Lämmern die Herde wieder anwachsen lassen. Und um Käse herstellen zu können, braucht es mehrere Schafe, damit man genügend Milch bekommt. Jetzt sind es etwa ein Dutzend Tiere. In den kommenden Monaten dürfte die Idealzahl erreicht werden, schätzt er.

Unter einem alten Olivenbaum, der in der Nähe des Hauses steht, serviert Alayeh Shoaybi Tee. Wer möchte, gibt noch Minze oder Salbei ins Glas. »In meinem Beruf«, erklärt die Schäferin, »habe ich mit den Siedlern glücklicherweise keine Probleme. Zumindest nicht direkt, denn ich lasse die Schafe auf dem Land nebenan weiden. Natürlich gibt es ein paar Kilometer entfernt Siedlungen.« Und es gibt die Straßenblockaden. »Vor ein paar Wochen sind gepanzerte Fahrzeuge und israelische Soldaten auch zu uns gekommen, um eine Militärübung in Deir Ghassane durchzuführen«, fährt sie fort. »Sie kamen auch hier vor unser Haus. Das durften sie eigentlich nicht, aber sie taten es trotzdem.« Nach einem weiteren Schluck Tee sagt ihr Mann: »Mein Bruder ist seit 20 Jahren im Gefängnis, ich habe ihn seitdem nicht gesehen. So dringt die Besetzung in unser Leben ein.«

Als wir uns von Alayeh Shoaybi und ihrer Familie verabschiedet haben, fahren wir außerhalb des Dorfes eine schmale Straße entlang und schlängeln uns Kurve für Kurve den steilen, mit Olivenbäumen bedeckten Hang eines Berges hinauf. Unter uns liegt das Wadi Amuriya, das sich zwischen den Felsen entlangwindet. In der Nähe des Baches ist die Schlucht grün, aber die Höhen sind karg und ockerfarben, das dunkle Grün der Olivenbäume setzt sich davon ab. Nariman Deik zeigt auf die Häusergruppen auf den Anhöhen direkt vor uns, jenseits des Wadi Amuriya. »Ich komme aus diesen Dörfern. Die Gebäudegruppe weiter westlich sind israelische Siedlungen. Da drüben liegt Aley Zahav.«, sagt Naser Qadous und blickt nach links. »Palästinensische Dörfer erkennt man daran, dass die Dächer der Häuser mit Wassertanks überladen sind, in den Siedlungen ist das anders.«

Er erklärt, dass Wasser hier nicht nur kostbar ist, sondern auch ein Instrument der Macht. »Während die Palästinenser in den trockensten Monaten Wasser aus den oft nur wenige Meter entfernten Stauseen rationieren, bewässern die Israelis in den Siedlungen ihre Gärten.« Ihre Wasserversorgung ist gesichert. »Dieser ungleiche Zugang zum Wasser gefährdet auch die Landwirtschaft und die Viehzucht«, meint Naser Qadous. »Deshalb haben wir mit Anera auch Familiengewächshäuser entwickelt, bei denen wir Techniken zum Wassersparen einsetzen.« Familien können dort Gemüse für sich selbst und für ihr kleines Unternehmen anbauen. Das sei eine ganz praktische Unterstützung der Familien in ihrem Alltag.

Auf dem Rückweg nach Ramallah scheint die Sonne. Nariman Deik erklärt die Ausrichtung der Projekte: »Im Mittelpunkt stehen die Frauen, aber unsere Unterstützung umfasst oft die gesamte Familie. Zum Beispiel haben wir für den Sohn einer Frau eine Schmiedeausrüstung gekauft, damit er das Handwerk erlernen und ein Unternehmen gründen kann.«

Wir überqueren den Kreisverkehr, der zur israelischen Siedlung Halamish führt. Als wir an einem Wachposten vorbeifahren, richtet ein Soldat sein automatisches Gewehr auf unser Auto, wie er es bei allen Fahrzeugen macht, die auf dieser Straße an ihm vorbeifahren. Er sieht bedrohlich aus. »Auf dieser Strecke kann es gefährlich sein, wenn man sich verfährt oder eine Autopanne hat«, sagt Naser Qadous. Das gegenseitige Misstrauen im Westjordanland ist groß. Auch wenn der Konflikt nicht jeden Tag eskaliert und für Schlagzeilen sorgt, so ist er doch tief im Alltag verwurzelt.

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